Pater Daniel Hörnemann über Potenzial und Talente

Auslegung der Lesungen vom dritten Sonntag der Fastenzeit / Lesejahr C

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Bei den schrecklichen Ereignissen in diesen Tagen geraten positive Nachrichten allzu leicht in den Hintergrund. Doch Jesu Nachricht an die Menschen ist weiterhin aktuell. Wir sollen aus der Lethargie erwachen und unsere Talente und Fähigkeiten einsetzen, erklärt Pater Daniel Hörnemann und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Schlimme Nachrichten beschäftigen uns Menschen. Insbesondere Ereignisse mit zahlreichen Todesopfern wie Krieg, Unfälle, Flut- oder Feuerkatastrophen und Terroranschläge brennen sich tief in unser Gedächtnis ein. Das war zur Zeit Jesu nicht anders. Als die verhassten Römer galiläische Gläubige im Tempel massakrierten, ging eine Welle der Empörung durch das ganze Land. Als in Schiloach ein hoher Turm einstürzte, mit vielen Todesopfern, blieb dieses Ereignis stark im Gedächtnis der Menschen.

Der durch solche Verluste verur­sachte Schmerz lässt sie fragen: Warum? Es ist auffällig, dass der Mann, an den sie sich wenden, diese für die Menschen so wichtige Frage gar nicht beantwortet. Jesus versucht nicht einmal, eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage „Warum?“ zu geben. Für ihn ist etwas anderes wichtig: Lasst es nicht so weit kommen, dass auch ihr dieses Schicksal erleidet! Dieser Jesus versucht, seine Zeitgenossen aufzurütteln und ihrer Lethargie zu entreißen. Mit seinen Gleichnissen will er sie zum Umdenken provozieren. So auch in seinem Beispiel vom bis dato unfruchtbaren Feigenbaum, der eine allerletzte Chance eingeräumt bekommt.

Die Zeit ist begrenzt

Die Lesungen vom dritten Sonntag der Fastenzeit (Lesejahr C) zum Hören finden Sie hier.

Seine eindringliche Botschaft lautet übertragen: Macht etwas aus eurem Leben, nutzt den Tag. Denn die Zeit, in der ihr Früchte tragen könnt, ist begrenzt! Seht zu, dass bei euch nicht wie bei dem Feigenbaum die Früchte ausbleiben. Am Ende eurer Lebenszeit sollt ihr nicht sagen müssen: Ich bin nicht der Mensch geworden, der ich hätte werden können. Ich habe mein Potenzial nicht entwickelt, sondern meine Talente vergraben und meine Chancen ungenutzt verstreichen lassen.

Wie tröstlich, dass der Weingärtner dem Besitzer noch eine Schonfrist abringt, es ist noch nicht alles zu spät. Der Aufschub von einem Jahr und die stete Sorge um den Baum können noch dazu dienen, dass Früchte wachsen. Wir wissen nicht, was aus dem Feigenbaum geworden ist. Das Gleichnis erzählt nicht, ob er noch Früchte trug oder abgehauen werden musste. Es provoziert uns jedoch mit dem darin liegenden Motto nach dem lateinischen Dichter Horaz: Carpe diem! - Mach das Beste aus dem Tag, mach etwas Außergewöhnliches aus deinem Leben.

Fähigkeiten entdecken

Pater Daniel Hörnemann ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve.
Pater Daniel Hörnemann ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve.

Das war auch die Grundbotschaft des Englischlehrers Mr. Keating in dem Film „Der Club der toten Dichter“. Er lehrt seine Schüler, dass sie nicht die Ewigkeit gepachtet, sondern nur ihre begrenzte Lebenszeit zur Verfügung haben. Er hilft ihnen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zu nutzen. Auch gegen die Vorstellungen vom Schuldirektor, von Lehrern und von Eltern. Der Schulleitung gefallen die ungewöhnlichen Methoden und der Stil von Mr. Keating nicht, er wird schließlich nach einer Intrige gegen ihn suspendiert und muss die Schule verlassen.

Gegen den wütenden Protest des Schulleiters erweisen die Schüler ihrem Lehrer eine starke Geste ihres Respekts. Sie haben mit Mr. Keating’s Hilfe gelernt, blinden, strikten Gehorsam zu hinterfragen, Gefühle, Probleme und Ängste mithilfe von Gedichten zu verarbeiten, selbstständig zu denken und zu handeln und nicht einfach der breiten Masse zu folgen. Wie weit die Saat des Lehrers später in den Schülern aufgegangen ist, verrät der Film nicht. Seine unkonventionelle Art führte lediglich zur Entlassung von Mr. Keating.

Religion beginnt mit Staunen

Jesus geriet mit seiner provozierenden Botschaft noch ganz anders in Konflikt mit den Mächtigen und wurde schließlich deswegen hingerichtet. Wer sich exponiert, lebt gefährlich. Über die Durchschnittsmenschen schreibt der jüdische Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel: „Selten im Leben nehmen wir die Herrlichkeit wahr. Wir entziehen uns dem Staunen, wir verweigern die Antwort auf die Präsenz. Das ist unser aller Tragödie: ‚Wir verdunkeln jedes Wunder durch Gleichgültigkeit.‘ Leben ist Routine, und Routine ist Widerstand gegen das Wunder.“

Religion beginnt jedoch mit Offensein und Staunen, mit der Suche nach Erklärung für das Unbekannte, Unbegreifliche. Staunen ist Spannung, das Bewusstsein, gefordert zu sein. Das Geheimnis weckt unsere Aufmerksamkeit, wie bei Mose der brennende Dornbusch. Alles schöpferische Denken kommt aus einer Begegnung mit dem Unbekannten. Dort wurde Mose in Bewegung gesetzt, über sich hinauszuwachsen. Seitdem brannte ein unauslöschliches Feuer in ihm bis an sein Lebensende. Er wurde zum Hoffnungsträger für seine Leute.

Sämtliche Texte der Lesungen vom dritten Sonntag der Fastenzeit (Lesejahr C) finden Sie hier.

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