Vor Münsteraner Missbrauchs-Gutachten: Jesuiten-Experte im Interview mit "Kirche-und-Leben.de"

Mertes zu Missbrauchs-Aufarbeitung: Unauflösbare Unzufriedenheit bleibt

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2010 war es der Jesuit Klaus Mertes, der sexualisierte Gewalt durch Ordensbrüder am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich machte - und damit den Anstoß zur Enthüllung des großen Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland gab. Vor Veröffentlichung des Münsteraner Gutachtens am 13. Juni sagt er im Interview mit "Kirche-und-Leben.de", was er von der historischen Vorgehensweise hält, was die Betroffenen der Kirche zu sagen haben und warum alle etwas gewusst haben.

Pater Mertes, anders als die bereits veröffentlichten Gutachten der Erzbistümer Köln und München-Freising ist das für das Bistum Münster erwartete kein juristisches, sondern ein historisches, erstellt von Experten der Universität. Was macht aus Ihrer Sicht den Unterschied aus?

Ich schätze den Zugang über die historische Rekons­truktion als sehr hilfreich ein. Das Vorgehen mit juristischen Gutachten wie etwa in München und Köln halte ich eher für problematisch. Denn sie sind ja nur ein erster Schritt, ein Beweismittel für eine Urteilsfindung. Faktisch allerdings werden diese Gutachten in der Öffentlichkeit häufig selbst schon als Urteil angesehen. Hinzu kommt: Über das individuelle Versagen von Verantwortlichen, das juristische Gutachten aufzeigen, weitet ein historisches Gutachten stärker den Blick auf die systemischen, gesellschaftlichen, kulturellen Kontexte, in denen Versagen, mangelndes Problembewusstsein oder schuldhaftes Wegsehen und Strafvereitelung stattgefunden haben.

Darauf hat ja schon das Zwischenergebnis der Münsteraner Studie im Dezember 2020 hingewiesen: dass es Vertuschung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker nicht nur in den Bistumsleitungen, sondern auch in Gemeinden und in der staatlichen Strafverfolgung gab …

Das überrascht doch überhaupt nicht!

Warum nicht?

Weil es heute ganz genauso ist! Ich weiß aus Interventionsprozessen auch außerhalb der katholischen Kirche, dass dort genau dasselbe passiert. Oder denken Sie aktuell an Sexismus und Gewalt gegen Frauen in der Partei „Die Linke“! Im Missbrauchskomplex am Berliner Canisiuskolleg, der 2010 öffentlich bekannt wurde, praktizierte der Haupttäter folterähnliche, brutale, sadistische Prügelstrafen auf den nackten Hintern – und hatte in der Schule bei allen Schülern ganz selbstverständlich und offen den Spitznamen „Pater Pavian“! Alle wissen etwas! Im Blick auf Einzelpersonen muss in einem gerechten Verfahren Verantwortung festgestellt werden, und es muss Konsequenzen geben. Aber für die sys­temische Durchleuchtung muss man davon ausgehen, dass alle etwas gewusst oder wenigstens gespürt haben. Und selbst wenn das jemand begründet abstreitet, kann das dennoch nicht die Legitimation dafür sein zu meinen, man hätte nichts damit zu tun.

Mit jedem neuen Gutachten eines Bistums wird das Thema Missbrauch immer wieder aktuell. Manche sehen das inzwischen als Belastung, andere monieren eine gewisse Empörungs-Routine. Wie sehen Sie das?

Wie man es macht, macht man es falsch. Also sollte man das machen, was man für richtig hält. Es gibt keine Alternative zur Aufklärung. Die Bistümer haben jetzt diesen Weg gewählt. Ich habe meine Kritik daran geäußert, die sich vor allem auf die Frage der Unabhängigkeit der Aufarbeitung bezieht. Aber ich bin nicht die Kassandra, die danebensteht und wartet, bis alles scheitert. Kritisieren kann man immer …

Mir geht es auch weniger um Ihre Kritik als um Ihre Einschätzung: Wo steht der Prozess der Aufarbeitungsarbeit der katholischen Kirche in Deutschland?

Das hängt davon ab, was man unter „Aufarbeitungsarbeit“ versteht. Sofern es um Gerechtigkeit für die Betroffenen geht, sehe ich drei entscheidende Aspekte: Zum einen, dass ihre Leidensgeschichte aufgeklärt und von der Institution Kirche anerkannt wird. Zum anderen, dass da, wo es über die Täter hinaus institutionelles Versagen gegeben hat, auch Verantwortung übernommen wird und die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Und schließlich, dass Hilfen auch finanzieller Art geleistet werden, wo es nötig ist. Was die Anerkennungszahlungen betrifft, so sind sie ja nochmal von Hilfszahlungen zu unterscheiden. Hier hatte die Kirche 2011 ein Verfahren eingeführt, das nach 2018 verändert wurde. Das war riskant. Verfahrensänderungen in laufenden Prozessen verursachen meist neue Ungerechtigkeiten, neue Erwartungen und damit auch neue Enttäuschungen. Nun wird das neue Verfahren wieder kritisiert.  Man kann also wieder alles neu aufrollen, aber ich halte nichts davon. Verfahren können nicht ständig verändert werden. Das ist kontraproduktiv. Das Ziel der Aufarbeitung kann eben nicht sein, dass am Ende alle zufrieden sind.

Sondern?

Der Schaden, der durch Missbrauch und Vertuschung angerichtet wurde, ist so tief, dass die Kirche eine unauflösbare Unzufriedenheit ertragen muss, ohne in einen Harmoniezwang zu fliehen und dann womöglich auch noch den Opfern vorzuwerfen, dass sie immer noch nicht zufrieden sind. Ich höre das immer wieder, wenn es um die Beteiligung der Betroffenen geht: „Jetzt haben wir schon so viel getan, und noch immer sind sie nicht zufrieden!“ Das geht überhaupt nicht. Und es stimmt so pauschal ja auch nicht. Die Betroffenen sind keine homogene Gruppe. Es ist auch sprachlich übergriffig, wenn man sie so oder so über einen Kamm schert. 

Der Synodale Weg ist eine direkte Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal. Ist das genug im Blick? Wann ist er für Sie ein Erfolg?

Für mich ist das Glas eher halb voll als halb leer. Natürlich kann man auch da viel Kritisches sagen. Zum Beispiel dies: Ich höre Beiträge in den Synodalversammlungen, die ich einfach unterkomplex finde.

Woran denken Sie?

Etwa, wenn gesagt wird: Wir müssen jetzt Strukturen so aufstellen, dass es nie mehr Missbrauch gibt. Das wird man nicht erreichen. Für mich wäre es ein Erfolg, wenn alle Synodalen begriffen: Sie alle, jeder und jede in Diözesen, Gemeinden und Verbänden stecken in unterschiedlichen Weisen mit drin. Missbrauch ist kein Problem „der anderen“. Der Synodale Weg wird dann ein Erfolg, wenn er deutlich machen kann: Missbrauch ist zwar ein nicht von der Hand zu weisender Anlass dafür, systemische Probleme anzusprechen, aber sie dürfen nicht einfach nur funktional auf strukturelle Prävention reduziert werden.

Was meinen Sie damit?

Die katholische Sexualmoral etwa im Umgang mit Homosexualität ist in sich diskriminierend. Selbst, wenn es keinen Missbrauch gäbe, muss daran etwas geändert werden. Oder: Ein monarchisches System kann sich schlichtweg nicht selbst aufklären. Auch wenn es keinen Missbrauch gäbe, muss also eine disziplinarische Verwaltungsgerichtsbarkeit her, da Institutionsversagen nie auszuschließen ist. Oder: Die Stellung der Frau in der Kirche ist keine funktionale Frage im Missbrauchs- und Macht-Komplex – zumal es auch Missbrauch durch Frauen gibt. Die Gleichstellung von Mann und Frau hängt schlichtweg mit der gleichen Würde von Mann und Frau zusammen. Darum ist eine Unterscheidung der Geschlechter beim Zugang zum kirchlichen Amt begründungspflichtig. Und wenn die Begründung zu schwach ist, muss da etwas geändert werden. 

Und doch stellt sich auch die Frage: Was sagen die Betroffenen der Kirche? Welche Bedeutung kommt ihrer Perspektive zu, wenn Kirche glaubhaft Kirche sein will?

Das ist eine wichtige und sehr spannende Frage. Sie wurde ja auch in der Synodalversammlung thematisiert, als der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck vom „besonderen Lehramt der Betroffenen“ sprach oder der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer in kritischer Absicht vom „unfehlbaren Lehramt der Betroffenen“. Die Frage ist, welchen argumentativen Status die Berufung auf die Opferperspektive für Strukturfragen in der Kirche hat. Für mich ist klar: Ohne die Opferperspektive geht es nicht. Denn erst im Spiegel der Opfergeschichten erschließen sich der Kirche selbst ihre dunklen Seiten. Auf der anderen Seite kann der Hinweis auf die Opferperspektive zu einem leeren Autoritäts-Argument verkommen. Überhaupt: Wer ist berechtigt, diese Autorität für sich in Anspruch zu nehmen? Ich bin inzwischen zu vielen Personen in der Kirche begegnet, die lautstark mit der Opferperspektive argumentieren und dabei gar nicht begreifen, dass sie selbst in Vertuschungsdynamiken mit verstrickt sind, ganz aktuell, jetzt. Der Synodale Weg wäre dann gelungen, wenn es hier eine Klärung gäbe. Das würde übrigens der ganzen Kirche helfen. Es ist eines der großen Probleme der Weltkirche und speziell in Rom, dass der Vatikan ja selbst auch keine Sprache hat.

Dass er keine Sprache hat?

Exakt! Aus päpstlichen und anderen Äußerungen höre ich immer nur „Mitleid mit Opfern“, „Sorge um die Betroffenen“, „böse Täter“, „die haben die Kirche beschmutzt“, aber darüber hinaus: „Und davon abgesehen machen wir weiter wie gehabt.“ Das reicht überhaupt nicht.

Zur Person: Klaus Mertes
Die Aufdeckung des Missbrauchs­skandals durch Geistliche in Deutschland nahm mit seiner Initiative ihren Anfang: 2010 war Pater Klaus Mertes Rektor des Canisius-Kollegs, eines Jesuiten-Gymnasiums in Berlin, als sich ihm mehrere frühere Schüler vertraulich offenbarten und berichteten, von Lehrern des Ordens sexuell missbraucht worden zu sein. Mertes schrieb daraufhin einen Brief an die rund 600 Angehörigen der betroffenen Jahrgänge aus den 1970er und 1980er Jahren. Darin betonte der Jesuit, er wolle „dazu beitragen, dass das Schweigen gebrochen wird“.
Schon 2007 hatte der Jesuitenorden eine externe Sachverständige mit der Untersuchung von Missbrauch in seinen Einrichtungen beauftragt. Die Juris­tin Ursula Raue stellte im Mai 2010 in ihrem Abschlussbericht 255 Meldungen über Missbrauchsfälle fest, die besonders das Canisius-Kolleg in Berlin, aber auch andere Ordenshäuser betrafen. 12 Jesuitenpatres wurden demnach von mehreren Betroffenen genannt; 32 weitere Patres, weltliche Lehrer oder Erzieher von nur einem Betroffenen.
Das Jahr 2010 gilt durch die Veröffentlichung dieses Missbrauchsskandals als Wendejahr und sorgte für eine massive Erschütterung und für massiven Glaubwürdigkeitsverlust nicht zuletzt unter Katholikinnen und Katholiken. Die Deutsche Bischofskonferenz reagierte unter anderem mit der Ernennung des Trierer Bischofs Stephan Ackermann zum Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs und mit der Initiierung eines „Gesprächsprozesses“, der letztlich keine nennenswerten Ergebnisse brachte. 2018 kam die sogenannte MHG-Studie zu dem Schluss, dass es bei 1670 KLerikern Hinweise auf Beschuldigungen sexuellen Missbrauchs gab. 3677 Kinder und Jugendliche wurden als Opfer dieser Taten dokumentiert.
Klaus Mertes mahnte immer wieder eine schonungslose Aufklärung sowohl von Missbrauch als auch von dessen Vertuschung und eine selbstkritische Auseinandersetzung der Verantwortlichen in der katholischen Kirche mit den Missbrauch begünstigenden Faktoren an. Dazu gehört vor allem die Analyse systemischer Ursachen wie Männerbünde und Machtstrukturen, aber auch der Umgang mit Homosexualität und Frauen, allgemein die katholische Sexualmoral und ein überhöhtes Priesterbild.
2011 wechselte Mertes als Direktor des Kollegs St. Blasien in den Schwarzwald. 2020 verließ er den Schuldienst und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.
2021 wurde der Jesuit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für seinen Einsatz bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt in der katholischen Kirche mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Eine explizit kirchliche Ehrung wurde ihm bislang nicht zuteil.  | mn

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