Dirk Hülsey aus Burgsteinfurt verlor vor 17 Jahren ein Augenlicht

Warum ein blinder Mann Bogenschütze wurde

Dirk Hülsey aus Rheine hat vor 17 Jahren sein Augenlicht verloren. Sein starkes Gottervertrauen, seine Familie und Freunde haben ihm geholfen, sein Schicksal anzunehmen. Mittlerweile ist der 56-Jährige ein erfolgreicher Bogenschütze.

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Die Kugelspitze an seinem Langstock gibt ihm wichtige Rückmeldungen. Immer dort, wo sein gewohnter Weg von der Bushaltestelle im Gewerbegebiet in Rheine zum Sportplatz des TV Jahn problematisch werden könnte. Das Kontaktgeräusch ändert sich dann sofort. Bodenbeschaffenheit und kleine Hindernisse werden hörbar. Dirk Hülsey geht zügig, nimmt Abzweigungen zielsicher und die Bordsteine problemlos. Fünf Minuten, dann gelangt er auf das Gelände des Sportvereins, nimmt den Schotterweg um die großen Hallen und steht kurz darauf auf der Wiese dahinter. Die Zielscheiben für das Bogenschießen auf der anderen Seite wären schon zu sehen. Wenn er sehen könnte.

„Im Promillebereich“, sagt Hülsey, wenn er nach seinen verbliebenen Seh-Fähigkeiten gefragt wird. „Ein wenig hell und dunkel – mehr nicht.“ Seine Sicherheit ohne Augenlicht musste er sich hart erarbeiten. Er ist nicht von Geburt an blind. Den geschärften Hörsinn und das Gefühl für Raum und Entfernungen wurden zur großen Herausforderung, als er schon 39 Jahre alt war. „Im Urlaub hatte ich noch Harry Potter gelesen, zwei Wochen später konnte ich die Buchstaben nicht mehr erkennen.“ Den Roman konnte er nie zu Ende lesen. Einen Monat später war er blind. Bis heute haben die Ärzte keine Erklärung dafür.

 

Er fühlte sich als Last

 

Das ist jetzt 17 Jahre her. Eine Zeit, in der Hülsey zu einem vollständig neuen Leben gezwungen wurde. Er war vom Maurermeister, lebhaften Familienvater und leidenschaftlichen Motorradfahrer zu einer Last für alle geworden. Zumindest fühlte er sich so. „Ich bin damals manchmal fünf Mal in der Woche in die Sauna gegangen, um meiner Familie nicht auf die Nerven zu gehen.“ Zu viel Ungewissheit und Ängste gab es zu bewältigen – für sich, seine Frau und seine zwei kleinen Söhne.

Wer ihn heute über den ­schmalen Trampelpfad zur kleinen Hütte am Rand der Wiese gehen sieht, entdeckt keine Unsicherheit mehr. Zielstrebig steuert er die Bank unter dem Vordach an, um dort seine Tasche zu platzieren. Längst hat er schon wahrgenommen, wer sonst noch da ist. Von Weitem hat er die Stimmen gehört. Sein Trainer hat den Schießstand bereits vorbereitet. Einige Meter weiter setzt ein Schütze die ersten Pfeile. Auch Hülsey rüs­tet sich. Die Handgriffe sind geübt, Armschutz und Fingerschlaufe schnell angelegt.

 

Gefühl für die exakte Ausrichtung

 

„Ist das Stativ schon ausgerichtet?“, fragt er. Sein Trainer und er müssen noch ein wenig nachjustieren, bis das Gestänge mit Halterungen für den Bogen und den Köcher für die Pfeile richtig steht. Das Wichtigste daran sind die Platte, an die er gleich seine linke Hand anlegen wird, und die Fußraste. Beides wird ihm helfen, seine Position für den Schuss zu finden. Er geht in Stellung und wartet auf das Kommando des Trainers: „Grün!“ Die Scheiben sind freigegeben.

Hülsey schießt ins Schwarze, ins Nichts. Als der Pfeil die Sehne verlässt, hat er für einen Augenblick keinen Kontakt mehr zu ihm. Er kann die Flugbahn nicht verfolgen. Lautlos rast das Aluminiumgeschoss durch die Luft. 20 Meter Stille, dann der dumpfe Einschlag auf der Strohscheibe. Hülsey lächelt. „Ein schönes Geräusch.“

 

Ins Blaue geschossen

 

Eine erste Bestätigung seiner Treffsicherheit, mehr nicht. Die Ansage seines Trainers ist entscheidend. „Elf Uhr blau.“ Jetzt weiß er, wo sein Pfeil genau steckt. „Für den Anfang nicht schlecht.“

Es folgen fünf weitere Schüsse. Mal nähert er sich dem gelben Zentrum der Scheibe an, mal verfehlt er sie völlig. Die einzige Chance zu reagieren, ist seine Fuß- und Handhaltung. Die passt Hülsey nach jeder Treffer-Ansage an. Sechs Mal hohe Konzentration, sechs Mal exakte Technik, sechs Mal viel Kraft. Dann hängt er den Bogen auf. „Pfeile“, kommt es vom Trainer. Der Schütze macht sich auf den Weg zur Scheibe.

 

Sein Aktionsraum wird größer

 

Das Bogenschießen gehört schon seit zehn Jahren zu seinem Leben, bis zu drei Mal in der Woche. Eine Stunde vor Trainingsbeginn bricht er mit dem Bus aus seinem Heimatort Burgsteinfurt auf. Das Material bekommt er vom Verein gestellt, auch weil der Transport des großen Bogens schwierig wäre. „Ich vergrößere meinen Aktionsraum“, sagt Hülsey. Nicht nur weil er Zeit mit den anderen Schützen verbringt und mit ihnen fachsimpeln kann. Nicht nur weil er in eine eigene Klangwelt wechselt, in der das Rauschen der Bäume und das Singen der Vögel mit dem Surren der Bogensehnen und den lauten Einschlägen der Pfeile zusammenspielen. Er vergrößert auch seine Reichweite. Wie sonst nie agiert er in die Ferne, in einen Raum, den er anders nicht wahrnehmen könnte. Er schießt ins Weite.

Den Weg zu den Zielscheiben geht er heute ähnlich schnell wie seine sehenden Mitstreiter. Der Klang ihrer Stimmen rechts neben ihm weist ihm die Richtung. Irgendwann wird das Restlicht, das er wahrnimmt, weniger. Er weiß jetzt, dass die Entfernung zur Scheibe nicht mehr groß ist. Seine Hände tas­ten sich an den Rand des Strohrads, das mit Kunststoff bespannt ist. Nach und nach gleiten seine Finger von einem Pfeil zu andern. Er zählt mit. Fünf müssen es dieses Mal sein. Ein Schuss hat das Ziel gänzlich verfehlt.

 

Beste Schießergebnisse

 

Das passiert ihm nicht oft. Noch vor wenigen Wochen hatte er bei einem internen Vereinswettkampf eines der besten Schießergebnisse. Auch viele sehende Schützen konnten nicht mithalten. Zwar ist ihre Entfernung zum Ziel weitaus größer und ihre Scheibe kleiner. Die Leistung von Hülsey schmälert das nicht. Er ist in guter Verfassung, hat seine Schussmotorik verfeinert, seinen Rücken gestärkt, die Ruhe vor dem Schuss gefunden. Er arbeitet weiter daran, mit seinem Trainer. Der achtet auf die Position des Kinns und den Zug der Sehne zur Nasenspitze. Auch die Haltung des Oberkörpers wird immer wieder korrigiert. Bogenschießen ist Gefühlssache.

Hülsey war völlig am Boden, als er erblindete. Das damalige Gefühl hat er nicht vergessen. Bis er sich aufraffen konnte, seine neue Lebenssituation zu gestalten, brauchte es Zeit. „Das war meine Familie“, antwortet er auf die Frage, was ihn davon abhielt zu resignieren. Trotz aller Sorgen stand sie zu ihm. Und seine Freunde, die ihn nicht fallen ließen. „Sie haben mich aus dem Loch geholt, in dem ich saß.“ Noch heute geht er mit ihnen segeln. Auch das sind Momente, in denen er seine Welt erweitert.

 

Glaube braucht kein Augenlicht

 

„Und mein Glaube“, sagt Hülsey dann. „Ohne den wäre es auch schwer geworden.“ Ein Gefühl, für das er keine Augen brauchte. Etwas, das ihn trug, ohne angefasst werden zum müssen. Es war gut, dass Gottvertrauen für ihn selbstverständlich war. Er war damit aufgewachsen. Jetzt konnte er es als Rüstzeug gebrauchen.

Die Jahre damals haben ihn stark gemacht. Er entwickelte eine neue Wahrnehmung dafür, wie er wieder Freude am Leben gewinnen konnte. Das will er weitergeben. „Es gibt nicht wenige, die in ähnlichen Situationen sind.“ Er hat sich zum Berater für Menschen mit Sehbehinderung ausbilden lassen. „Zertifiziert“, sagt er nicht ohne Stolz. Im Verein „Blickpunkt Auge“ berichtet er ihnen von seinen Erfahrungen. „Sie sollen genauso aus dem dunklen Loch wieder herauskommen wie ich.“

 

Zufriedenheit garantiert

 

Nach zwei Stunden ist das Training beendet. Hülsey streckt seine Arme, um den Rücken zu dehnen. Zwölf Mal hat er heute die Pfeile aus seiner Zielscheibe gezogen. Das Kreuz, den Mittelpunkt darauf, hat er kein Mal getroffen. Aber einige Male den gelben Bereich darum. Zufrieden klappt er seinen Langstock aus, um sich auf den Weg zurück zur Bushaltestelle zu machen. Das Gefühl der Enttäuschung kennt er beim Bogenschießen nicht. „Im Vergleich dazu habe ich doch ganz andere Sachen erlebt.“

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