Jochen Sautermeister über Machtmissbrauch und Überidentifizierung

Gehorsam: Wo die Loyalität eines Generalvikar mit seinem Bischof endet

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Was weltlich Loyalität heißt, hat ein kirchliches Pendant: Gehorsam. Wer ihn einfordert, muss verantwortlich mit seiner Macht umgehen. Sogar innerhalb von Bistumsleitungen, sagt Jochen Sautermeister im Gast-Kommentar.

Im Gefolge der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Kirche ist auch das Bewusstsein für andere Formen von Missbrauch wie geistlichem Missbrauch, Machtmissbrauch oder Missbrauch von Autorität gewachsen. Dem Missbrauch von Autorität korrespondiert der Missbrauch von Gehorsam. 

Dieser lässt sich jedoch nicht als eine Unterform von Machtmissbrauch beziehungsweise Missbrauch von Autorität begreifen. Denn beim Missbrauch von Gehorsam geht es um eine illegitime und schädliche Beanspruchung des Gehorsamsversprechens als Konsequenz eines geistlichen Amtes, eines religiösen Standes oder einer spirituellen Haltung, das sich letztlich vom Gehorsam gegenüber Gott, im Hören und Antworten auf Gottes Ruf und Willen ableitet.

Gehorsam ist etwas anderes als Loyalität

Ein Gehorsamsversprechen unterscheidet sich von professionellen Loyalitätsverpflichtungen dadurch, dass es als Sprachhandlung eine Selbstverpflichtung darstellt, die die ganze Person in Anspruch nimmt. Dabei bringt die Person eine religiös-moralische Grundhaltung zum Ausdruck, die sie selbst vom Augenblick des Versprechens an bindet.

Der Autor:
Jochen Sautermeister ist Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. 

Zur normativen Logik des Gehorsams gehört es, dass das Versprechen nicht einseitig zurückgenommen werden kann. Daher ist die Verantwortung desjenigen, der ein solches Versprechen abnimmt beziehungsweise dem Gehorsam versprochen wird, besonders hoch. Die Gefahr, die Beanspruchung von Gehorsam zu überdehnen, ist verführerisch. 

Die Gefahr von Identifikationsdynamiken

Nicht minder verführerisch können seitens des Gehorchenden Identifikationsdynamiken oder Verschmelzungsfantasien mit der kirchlichen Autorität sein – aus welchen Gründen auch immer. Dann handelt es sich um eine Form von (Selbst)Entmündigung, die nicht nur die moralische Integrität dessen verletzt, der Gehorsam verspricht, sondern auch ungerechte Strukturen und Dynamiken weitergeben kann.

Wenn etwa ein Generalvikar als „alter ego“ eines Bischofs alles rechtfertigt, verteidigt oder auf sich nimmt, was der Ortsordinarius wünscht, unabhängig davon, ob es legitim ist oder nicht, dann unterliegt er nicht nur einem falschen theologischen Gehorsamsverständnis, sondern untergräbt seine Selbstachtung und missachtet sein Gewissen – abgesehen davon, dass dies auch seine eigene Glaubwürdigkeit beschädigt.

Bereits im Jahr 2009 hat Klaus Mertes SJ – mit anderer Wortwahl – gewarnt: „Eine Kirchenleitung, die nicht unterscheiden könnte zwischen loyaler und illoyaler Kritik, liefe Gefahr, sich von der Wirklichkeit zu entfernen und als Blindgänger durch die Welt zu laufen, gefährlich für sich und für andere.“

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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