Johannes Lorenz zu einem Hilfeschrei von Kulturschaffenden

Künstliche Intelligenz in Kunst und Kultur: Gefahr oder Bereicherung?

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Künstliche Intelligenz führt zu massiven Umwälzungen, sicherlich auch in Kunst und Kultur. Doch menschliche Kreativität hat einen ganz eigenen Wert, den es zu schützen gilt, führt Johannes Lorenz in seinem Gastkommentar aus.

Im April 2024 veröffentlichte eine Künstlergruppe um Billie Eilish einen offenen Brief, unterschrieben von mehr als 200 Größen aus der Musikbranche. Sie fordern darin die großen Techkonzerne auf, bei der Entwicklung ihre KI-Systeme ihr geistiges Eigentum nicht zu plündern („predatory“). Zudem sorgen sie sich davor, dass die „kunstschaffenden“ KI-Systeme ihre Kunst und damit einen wichtigen Berufszweig zerstören.

Ohne den Zugriff auf echte Kunst können KI-Systeme nicht trainiert werden. KI-Systeme brauchen die Schaffenskraft des Menschen als Übungsterrain, um kunstähnliche Ergebnisse produzieren zu können. Der Anbieter „SUNO Ai“ etwa bietet Nutzern an, je nach Tarif sogar gratis, KI-generierte Musik zu produzieren. Die Ergebnisse sind mitunter atemberaubend. Man bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen ungläubigem Staunen vor den schier unendlichen Möglichkeiten von KI-Musik – es gibt dort einen Bereich, in dem erstaunliche Kombinationen von Musik-Genres angeboten werden (zum Beispiel bengali electropop) – und kopfschüttelndem Fatalismus ob der Sprengkraft dieser Technik.

In absehbarer Zeit wird menschliche Kreativität täuschend echt simulierbar sein, nicht nur im Bereich der Kunst. Was wird sich damit verändern? Mainstream-taugliche Kunst könnte dann ganz durch KI-Systeme ersetzt werden. Weil für KI jedoch der Zugriff auf Daten-Massen eine „conditio sine qua non“ ist, könnte sich echte, menschengemachte Kunst in einen subkulturellen Bereich hinein verlagern. Stehen wir vor einem neuen Zeitalter von KI-Indie-Kunst?

Kann KI überhaupt Kreativität ersetzen?

Der Autor
Johannes Lorenz: 1986 wurde ich in Freiburg im Breisgau geboren. Nach dem Abitur bin ich zufällig bei der Theologie gelandet. Die vielen spannenden Themen haben mich aber bis heute nicht mehr losgelassen. Vor allem die Fragen aller Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und die wichtigste: Was ist der Mensch? Sehr geprägt hat mich meine Zeit während meiner Promotion bei Eberhard Schockenhoff in Freiburg. Heute bin ich als Studienleiter für die Katholische Akademie im Haus am Dom in Frankfurt tätig.

Hinter der hoffnungsvollen Frage steht die Vermutung, dass KI-Kunst niemals einem kreativen Verhältnis entspringen kann, noch jemals ein solches ersetzen wird. Kunst ist nicht allein Ergebnis eines wie auch immer vonstatten gehenden Prozesses. Kreativität lebt von einem wachen Verhältnis zwischen einem Menschen und seiner Mit-Welt, das durch ein „Temperament“ (V. van Gogh) geprägt ist. Kreativität resultiert aus einem bestimmten Sehen oder Hören (oder Schmecken etc.) der Welt und bildet dieses gleichzeitig immer feiner aus. 

Wer zum Beispiel gut hören kann und deshalb Musiker wird, wird durch die Musik ein immer besserer Hörer. 1888 schwärmte van Gogh in einem Brief an seine Schwester von den Sehmöglichkeiten, die ihm sein Aufenthalt am Mittelmeer ermöglichte. „Aus einer Stunde Entfernung unterscheidet man noch die Farbe der Dinge, zum Beispiel das Graugrün der Olivenbäume und das Grasgrün der Wiese, und das rosa Lila eines umgepflügten Felds; bei uns sehen wir eine verschwommene graue Linie am Horizont; hier ist diese Linie bis weit, weit weg scharf und die Form erkennbar. Das gibt eine Vorstellung von Raum und Luft.“ Nur der kreative Mensch, der aufmerksam und neugierig in die Welt blickt, kann die Welt so sehen lernen. Das Kunstschaffen selbst ist entscheidend, nicht allein das Ergebnis, weil Menschen Kunst nicht berechnen oder Wahrscheinlichkeitsabwägungen vornehmen.

Über menschliche Kreativität nachdenken

Fraglos werden uns die KI-Systeme in neue Dimensionen schleudern, weil „Kunst“ auf Knopfdruck möglich wird. Sie zwingen uns damit regelrecht dazu, über unser Verständnis von menschlicher Kreativität neu nachzudenken. Dafür müssen wir unsere infantile Technik-Faszination endlich in eine neue Nüchternheit transformieren. Ansonsten wird uns der Sinn für echte menschliche Kreativität abhandenkommen und die magischen Rechenergebnisse zu sehr faszinieren.

Offene Briefe von Künstlern werden dann auf noch weniger Gehör stoßen.

In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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