Interview über eigene Erfahrungen – und Lehren daraus

Max Mutzkes Mutter war alkoholkrank – so hilft der Sänger jetzt Kindern

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In Deutschland wachsen fast drei Millionen Kinder mit einem suchtkranken Elternteil auf. Sänger Max Mutzke (43) war einer von ihnen. Er engagiert sich für den Verein Nacoa, der betroffenen Kindern eine Stimme geben will.

Herr Mutzke, im Song "Hier bin ich Sohn" setzen Sie sich mit der Alkoholsucht Ihrer Mutter auseinander. Es geht um Ohnmachtsgefühle, Frust, um ihre verlorene Schönheit. Hat es Sie Überwindung gekostet, als prominente Person das Thema mit der Öffentlichkeit zu teilen?

Früher wollte ich darüber eigentlich nie sprechen. Vor allem nicht mit fremden Menschen, auf gar keinen Fall mit der Presse. Aber dann gab es dieses Songwriting in Berlin. Die Songwriterin, mit der ich zusammengearbeitet habe, hat mich gefragt, was mich beschäftigt. Da kam das Thema auf. Das war wie meine allererste Therapiestunde. Zum ersten Mal einem Menschen, der meine Familie nicht kennt, meine Geschwister nicht, meine Mutter nicht, einfach erzählen, wie das bei uns zu Hause war.

Wie war es, den Song zum ersten Mal live zu spielen?

Auf der Bühne habe ich nicht viel dazu gesagt. Nur, dass es eine Krankheit gibt, die in unserer Gesellschaft noch als Tabuthema behandelt wird, und ich dazu einen Song geschrieben hab. Ich habe gemerkt, dass im Publikum bei den Menschen was passiert, wenn ich den Song singe. Einzelne Leute haben da gesessen und geweint. Aber nicht unbedingt, weil sie traurig waren, sondern weil sie sich verstanden gefühlt haben. Das Feedback nach dem Konzert war dann oft: "Ich bin so froh, dass es jemanden gibt, der darüber spricht." Und, dass sie mit dem Song etwas haben, was sie ihrem Partner oder Sohn oder Ehemann vorspielen können, um denen besser zu vermitteln, wie es ist, mit Sucht in der Familie aufzuwachsen.

Sie leihen also Ihre Stimme Betroffenen, für die es schwer ist, darüber zu sprechen.

Als Sänger habe ich diese Chance, mich mit Gefühlen auseinanderzusetzen und sie in Worte zu fassen. Für manche Menschen gehört es vielleicht nicht dazu, sich wörtlich auszudrücken. Hinzu kommt die Befürchtung, dass Leute ein anderes Bild von einem haben könnten, weil man sowas in der Kindheit erlebt hat.

War es befreiend, dieses Tabu zu brechen?

Auf jeden Fall. Ich finde es blöd, als bekannter Sänger ein "Saubermann-Image" aufzubauen, ein falsches Bild von mir, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Dass ich nicht mehr mit der Mutter meiner Kinder zusammen bin, verheimliche ich auch nicht. Zu sagen "Ja, ich bin getrennt. Ja, meine Mutter war Alkoholikerin. Ich mach das Beste draus, ich kann trotzdem glücklich sein" - das ist doch viel wertvoller als zu sagen, alles ist perfekt, oder? Es liegt eine Schönheit darin, mit der eigenen, fehlerhaften Geschichte aufrichtig umzugehen.

Der Song über die Alkoholerkrankung Ihrer Mutter beginnt mit den Zeilen "Endlich öffnest du die Tür, ich merke gleich, du bist da, doch du bist nicht hier." Ist die mentale Abwesenheit der Mutter die prägendste Erfahrung?

Meine Mutter war lange Zeit, bevor es ins Endstadium ging, eine unglaublich lustige, originelle, total coole Frau. Natürlich war ihre Identität nicht nur "Alkoholikerin". Aber besonders am Ende war die Wahrscheinlichkeit, sie nicht nüchtern und nicht in vollem Geisteszustand anzutreffen, hoch. Das war schwierig. Da haben wir uns oft drei Monate nicht gesehen, obwohl wir nah beieinander gewohnt haben, weil ich mich und meine eigenen Kinder davor bewahren wollte. Ich würde aber nicht sagen, dass meine ganze Kindheit davon geprägt war. Mein Vater hat uns viel Stabilität gegeben.

Wann haben Sie begriffen, was mit Ihrer Mutter los ist?

Dass da was nicht stimmt, das merkt man als Kind schon früh. Aber ohne dass man es begreift. Man könnte es auch nicht erklären, sondern man merkt einfach: Meine Mutter ist irgendwie anders als die anderen Mütter. Manchmal fand ich sie viel aufregender und cooler. Sie war Schauspielerin, hat verrückte Sachen gekocht, viele Leute zu uns eingeladen und uns ein Leben außerhalb enger Normen vorgelebt. Aber es gab eben auch die Momente, wo ich mir eine andere Mutter gewünscht hätte, eine, die morgens mit den Kindern wach ist und Brote schmiert, die Kinder von der Schule abholt.

In Deutschland wächst jedes fünfte Kind mit einem suchtkranken Elternteil auf. In jedem Klassenzimmer müssten mehrere betroffene Kinder sitzen.

Man ist damit stigmatisiert. Nicht nur, weil man glaubt, man wäre es - man ist es tatsächlich. Obwohl man als Kind nichts dafür kann, dass das Elternteil eine Sucht entwickelt. Das meint man aber oft.

Angehörige von suchtbelasteten Personen haben ein deutlich höheres Risiko, eine psychische Krankheit zu entwickeln oder selber suchtkrank zu werden. Nur eines von drei Kindern kommt sozusagen "unbeschadet" davon.

Es ist ein Teufelskreis.

Was braucht ein betroffenes Kind?

Es braucht ein System, um das Kind aufzufangen, wenn die Eltern das nicht leisten können. Es braucht Menschen und einen Ort, an dem sich gekümmert wird, wo die Kinder etwas lernen und beschäftigt sind. Damit meine ich nicht nur Mathe und Bio, sondern auch Turnen, Malen oder Töpfern. Wo sie mittags und abends etwas zu essen kriegen. Und wo sie herauskommen aus dieser Struktur, die ihnen vorgaukelt, dass Alkoholkonsum die Normalität ist - damit sie später aus diesem Kreis ausbrechen können.

Sie sind Schirmherr von Nacoa, einer Interessenvertretung von Kindern suchtkranker Eltern. Wofür setzen Sie sich ein?

Ich will dafür kämpfen, dass diese Kinder nicht vergessen werden, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit bleibt und Ressourcen freigemacht werden.

Wie haben Sie selbst Frieden geschlossen mit der Erkrankung Ihrer Mutter?

Eigentlich erst nach ihrem Tod. Wir kamen aus dem Krankenhaus und saßen mit einem guten Freund zusammen, der evangelischer Pfarrer ist. Wir wollten, dass er die Trauerrede hält. Also haben wir ihm stundenlang von ihr erzählt. Erstmal haben wir sie wahnsinnig lang gelobt. Und irgendwann ist es umgeschlagen, wir haben viel Frust abgeladen. Er meinte dann: "Wenn ihr sechs liebende Kinder seid und ein liebender Ehemann und eure Mutter trotz all eurer Bemühungen den Absprung nicht geschafft hat - dann müsst ihr vielleicht akzeptieren, dass es für sie keinen anderen Lebensweg gab." Damit konnte ich das akzeptieren. Solang sie gelebt hat, konnte man das nicht. Da hätte dieser Satz auch nichts gebracht, weil wir gesagt hätten: "Aber sie müsste einfach nur aufhören zu trinken. Warum macht sie's nicht?" Das Brutale, aber auch Gute am Tod ist, dass er unumkehrbar ist. Es gibt dann keinen Zweifel mehr. Darin liegt auch Trost.

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