Chef des katholischen Hilfswerks geht nach zwölf Jahren

Scheidender Misereor-Chef Spiegel: „Wir zuerst“-Denken besorgt mich

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Pirmin Spiegel übergibt die Leitung des katholischen Entwicklungshilfswerks Misereor heute an den ehemaligen Aachener Generalvikar Andreas Frick. Im Interview blickt Spiegel zurück und sagt auch, was in der Entwicklungspolitik falsch läuft.

Pfarrer Spiegel, nach zwölf Jahren an der Spitze von Misereor verabschieden Sie sich. Was ist der größte Unterschied zwischen der aktuellen entwicklungspolitischen Lage und der von 2012?

Vor kurzem hat mich eine Mitarbeiterin daran erinnert, dass 2012 die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine stattfand. Wenn man dann auf die Situation heute schaut, ist das irgendwie ein Sinnbild für die gesamte Weltlage. Zurückschauen heißt stets auch zu schauen, was möglich gewesen wäre. Und dann fällt mir vor allem auf, wo es immer noch hakt.

Wo zum Beispiel?

Wo soll ich anfangen und wo aufhören? Kriege, millionenfache Flucht, Gewalt, Einschränkung von Menschenrechten und Demokratie, Populismus, Extremismus, Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Zerstörung der natürlichen Ressourcen und der Artenvielfalt…

Wenn alles schlimmer wird - heißt das, Sie haben gar nichts erreicht mit Misereor?

Wenn ich mir die vielen Projekte in den Ländern des Südens ansehe, bin ich mir sicher, dass wir eine Menge erreicht haben. Etwa, dass die Menschen selbstbewusster werden, dass sie sich ihre Rechte erkämpfen, ihr eigenes Leben gestalten und für sich sorgen können. Und auch global gesehen sind zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz immer klarer geworden, haben wir Fortschritte beim Lieferkettengesetz erreicht und einiges mehr. Aber ich bin auch nicht vermessen und weiß genau, dass wir zwar ein großes kirchliches Hilfswerk sind, aber nur ein ganz kleiner Player im Vergleich zu den großen Konzernen und deren Budgets, mit denen sie ihre eigenen Interessen verfolgen.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Stellenwert der Entwicklungspolitik?

Mich besorgt sehr, dass die Debatten immer häufiger mit der Ansage "Wir zuerst" verbunden werden - nicht nur bei Donald Trump mit seinem "America first". Immer wieder heißt es: "Was bringt uns das, was haben wir davon? Wenn wir in Entwicklungspolitik investieren, dann muss auch für uns was dabei rausspringen." Diese Verschiebung des Diskurses macht mich sehr nachdenklich. Denn das ist natürlich das Gegenteil von unserer Arbeit bei Misereor. Da darf Solidarität nicht an Eigennutz gekoppelt sein, sondern nur davon abhängen, was die Ärmsten brauchen in ihrer Not.

Was können Sie gegen diese Entwicklungen tun?

Vor allem dürfen wir nicht resignieren. Auch dann nicht, wenn angesichts der Kriege und Krisen die Not im Süden droht, vergessen zu werden. Oder wenn Milliarden für Waffen ausgegeben werden, statt für Projekte, die Menschen helfen. Wir müssen den Mund aufmachen und auf die vergessene Not aufmerksam machen. Und wenn Entwicklungszusammenarbeit so kritisch hinterfragt wird - denken Sie nur an die unsägliche Debatte über Radwege in Peru -, dann können wir das als Chance begreifen und umso deutlicher erklären, warum das Ganze wichtig und sinnvoll ist. Aber auch zum Beispiel, warum es uns nicht unbedingt unglücklicher macht, Abstriche am eigenen Lebensstandard zu machen, um den Menschen in Not ein besseres Leben zu ermöglichen und um unseren Planeten bewohnbar und lebenswert zu erhalten.

Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger Andreas Frick?

Wir waren vor kurzem sechs Stunden zusammen wandern und haben dabei über alle möglichen Themen gesprochen. Auch über die vielen formalen, technischen oder finanziellen Dinge, die so anfallen. Dabei habe ich ihm auch gesagt: "Andreas, hör auf die Menschen! Auf die Mitarbeitenden bei Misereor mit ihren Ideen, Erfahrungen und ihrem Engagement. Und vor allem auf die Menschen im Süden und unsere Partner vor Ort." Ich habe ihm von den vielen wunderbaren Begegnungen erzählt, die mich prägen. Hier spürt man die Kraft und die Hoffnung und die Ideen, wie wir die Welt gerechter und besser machen können. Und solche Begegnungen und Erfahrungen sind es, die ich ihm wünsche.

Wie geht es für Sie weiter?

Ich werde zunächst für drei Monate in meinem Herzensland Brasilien sein, wo ich ja lange gelebt und gearbeitet habe. Und danach zieht es mich zurück in meine Pfälzer Heimat, nach Speyer. Ich werde 67 und will gerne drei weitere Jahre lernen und Fähigkeiten einbringen.

Wie?

Ich habe mit einem Team um Bischof Karl-Heinz Wiesemann überlegt, wie wir mit Segensorten inmitten der Gesellschaft in Beziehung kommen können. Die Kirche will Segensort sein, und ich bin überzeugt, dass es in der Gesellschaft schon sehr viele solcher Orte gibt, wo Menschen aus ihrer Menschlichkeit und ihrem Glauben heraus ein Segen sind für andere, auch wenn sie das nicht so bezeichnen würden. Etwa in der Arbeit mit Migranten oder für den Klimaschutz. Und das werden wir noch gezielter angehen.

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