Themenwoche: Wo Kirche an die Ränder geht (3)

Marischa in Münster: Wie Ehrenamtliche sich um Prostituierte kümmern

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Der Straßenstrich ist für viele Menschen ein absolutes Tabuthema. Doch das Münsteraner Projekt Marischa kümmert sich um genau diese Frauen, die dort ihrer Arbeit nachgehen – mit einigem Erfolg.

Es war die Grundhaltung, die Tobias (Name ist der Redaktion bekannt) 2019 ansprach. Zu Anfang seines Jurastudiums fiel dem heute 25-Jährigen zufällig im Gesundheitsamt Münster ein Flyer von Marischa in die Hand. „Die Haltung des Projekts gefiel mir, dass die Frauen auf dem Straßenstrich so angenommen werden, wie sie sind.“

Das Angebot ist niedrigschwellig. Einmal in der Woche besuchen Ehrenamtliche von Marischa die Prostituierten zwischen Industrieweg, Robert-Bosch-Straße und Siemensstraße. Immer drei Personen. Einer wartet am Steuer des gemieteten Wagens. Zwei bieten Gespräche, Kaffee, Kondome, Soft-Tampons, Feuchttücher, manchmal auch Lebensmittel oder Schokolade an, die vorher gespendet wurden oder aus Spendengeldern finanziert werden. „Wir sagen: Wir helfen dir bei deinem Problem. Wir fragen: Was möchtest du? Selbstbestimmung wird großgeschrieben. Und wenn die Menschen es anders wollen, als wir es für uns wollen würden, nehmen wir das an und sind nicht eingeschnappt.“

Ganz normale Menschen

Zuweilen drehen sich die Gespräche nur um Parfüms oder Lidschatten. „Wir haben zu den Frauen ein herzliches Verhältnis. Sie freuen sich, uns zu sehen.“ Im öffentlichen Bewusstsein würden Menschen, die auf dem Strich arbeiten, oft als Opfer angesehen, die keine andere Möglichkeit zum Lebensunterhalt haben, gibt Tobias, der nicht mit seinem Namen in der Zeitung genannten werden möchte, zu bedenken.

Zwar stimme es, dass die Frauen meist aus osteuropäischen Ländern kommen und nicht über viel Geld verfügen. „Aber das sind ganz normale Menschen. Sie gehen ihrer Arbeit nach. Das ist deren Job – wenn es auch eine andere Arbeit ist als im Büro.“

Seit Marischa-Gründung 2012 ist viel passiert

Themenwoche: Wo Kirche an die Ränder geht
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Deswegen benutzen die Ehrenamtlichen das Wort Sexarbeit. „Neben den vielen Angeboten werden auch welche vorgehalten, wenn sich Menschen an das Projekt wenden, die sich vor dem Hintergrund einer Zwangslage prostituieren und Opfer von Menschenhandel geworden sind“, betont Tobias. Dann biete Marischa intensive Krisenintervention an. Das sei in der Regel auf dem Straßenstrich in Münster aber nicht der Fall.

Tobias fasst die wichtigsten Stationen von Marischa seit der Gründung 2012 zusammen: Beginn der aufsuchenden Arbeit 2013, Auszeichnung mit dem Dialogpreis durch die Bistumszeitung Kirche+Leben und das Bistum Münster 2014, enge Zusammenarbeit und Professionalisierung der Arbeit durch das Gesundheitsamt der Stadt Münster seit 2016, Einrichtung einer zweiten halben Sozialarbeit-Stelle bei der Stadt 2022. Ende 2021 hat Marischa einen Förderverein gegründet. Tobias ist der Vorsitzende.

Angebote stehen allen offen

Das Projekt finanziert sich aus Spenden oder Aktionen, etwa von Kirchengemeinden. Auch das Bistum Münster unterstützt. Trotz aller Professionalisierung ging die Ehrenamtsarbeit all die Jahre weiter. „Ohne die beiden Theologiestudierenden, die damit begonnen haben, die Frauen auf dem Straßenstrich in Münster aufzusuchen, würde es Marischa nicht geben“, blickt Tobias auf die Anfänge zurück. Der Kontakt zu den Gründenden mit den Aliasnamen Elisa und Josef bestehe bis heute. Zuweilen würden die Ehrenamtlichen gefragt: „Wendet sich das Projekt nur an Christen?“ Der Name Marischa ist nämlich eine Verniedlichungsform von Maria. „Unsere Angebote stehen aber allen bereit. Unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung oder Religion.“

Doch das Projekt hat sich auch gewandelt, erklärt der 25-Jährige, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und sich auf die Referendarzeit vorbereitet. Die Gruppe der bis zu 15 Ehrenamtlichen sei diverser geworden. Theologiestudierende gehören aktuell nicht dazu, dafür IT-Leute, Sozialarbeiter, Juristen und zuallererst Studierende der Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und der Fachhochschule. „Meist kommen sie durch Freunde in die Gruppe. Die Bereitschaft, das ehrenamtlich zu machen, ist enorm groß“, sagt er.

Straßenstrich bleibt Hauptarbeit von Marischa

Die Werte seien weiter jene, die zur Gründung von Marischa geführt haben. „Im Mittelpunkt stehen die Sexarbeitenden, die wir akzeptieren, wie sie sind und die wir so unterstützen, wie wir es können.“ So helfe man Menschen, die aussteigen wollten, manche suchten einen Reinigungsjob nebenher, einige brauchten eine Wohnung oder die Begleitung zum Arzt bei einer ungewollten Schwangerschaft oder beim Behördengang. Vor allem die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt sei dabei wichtig.

Die Zahl der Frauen auf dem Strich schätzt Tobias auf acht bis zwölf. Die Fluktuation sei groß. Manche Nacht verdienten sie kaum etwas, manchmal mehr. Es reiche meist nur zum Überleben. Durch die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt ist die Vernetzung vorangeschritten. So versucht Marischa auch die Prostituierten in Bordellen zu erreichen. Zudem gebe es eine nicht unbeträchtliche Zahl Personen in Wohnungen, zu denen man bisher nur wenig Kontakt habe. Zurzeit diskutiere man, wie ein Kontakt zu männlichen Prostituierten möglich ist. Ihre Zahl schätzt Tobias in Münster auf etwa 50. Sie seien vor allem auf Online-Plattformen präsent.

Die Hauptarbeit liegt aber weiterhin auf dem Straßenstrich. „Wir verstehen uns als Sprachrohr der Frauen“, sagt Tobias. „Die haben immer wieder gefordert, dass es fließendes Wasser geben muss.“ Nicht zuletzt auf Betreiben von Marischa hat die Stadt eine Hygiene-Station mit Toilette, Bidet und Waschbecken für das Areal genehmigt. „Wir hoffen, dass sie jetzt auch zeitnah eingerichtet wird“, sagt Tobias. Bisher bliebe den Frauen nichts anderes übrig, als im Gebüsch zu verschwinden.

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