Interview mit Jochen Reidegeld, Priester und Friedenforscher

Nahost-Konflikt: Wie Religionen Frieden stiften können

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Jochen Reidegeld, Priester des Bistums Münster, forscht seit bald zwei Jahren am Institut für Theologie und Frieden (ITHF) in Hamburg. Im Gespräch mit Kirche+Leben erklärt er, was es für den Frieden in Israel und Palästina braucht und welche Rolle die Religionen spielen.

Herr Reidegeld, Sie engagieren sich stark in Syrien und im Irak. Was verbindet die Situation dort mit der Lage in Israel, Gaza und dem Libanon?

Die Situationen insgesamt in der Region gleichen sich durch mehrere Faktoren. Das eine ist, dass die Konflikte nie nur die Konflikte zwischen zwei Parteien sind, sondern es immer mehrere staatliche und nichtstaatliche Akteure gibt, die von außen eingreifen und versuchen, den Konflikt im Sinne des eigenen Machtinteresses zu lenken. Hinzu kommt, dass die umkämpften Regionen jeweils von großer strategischer Bedeutung sind und damit zusätzlich im Fokus der ausländischen Akteure stehen. Zuletzt funktionieren in beiden Situationen Religionen als Brandbeschleuniger des Konfliktes.

Wie realistisch ist in diesem Zusammenhang eine Waffenruhe in Gaza, die gerade verhandelt wird?

Es besteht eine gewisse Chance auf Einigung, weil das Interesse der wesentlichen Akteure an einer Lösung immer größer wird und sie die Höhe des Preises kennen, wenn es wirklich zu einem regionalen Krieg käme. Auf der anderen Seite sind die Narrative des Hasses, die der Bevölkerung über Jahre eingeimpft wurden, aktiv. Das erschwert den Herrschenden, die das Narrativ gestreut haben, die Kompromissfindung.

Unter welchen Bedingungen könnte ein Frieden zustande kommen?

Die Friedenswissenschaft unterscheidet zwischen einem negativen und positiven Frieden. Der negative Friede ist die Abwesenheit von Gewalt und der positive Frieden zeichnet sich durch Gerechtigkeit und stabile Zustände aus. Bei den Konflikten im Nahen Osten muss man wohl zum Schluss kommen, dass es keinen langfristigen Frieden geben wird ohne Gerechtigkeit. Meine Erfahrung aus Gesprächen in Flüchtlingslagern zeigt mir, dass im Laufe eines solchen Konflikts immer Unrechtssituationen auf beiden Seiten entstehen. Der Umgang damit kann nur gelingen, wenn die Akteure es als gemeinsame Verantwortung sehen, eine gerechte Ordnung in der Region zu schaffen. Ohne diese Einsicht wird es nicht gehen.

Das wäre Ihrerseits dann ein Plädoyer für den positiven Frieden?

Ja, genau. Ich glaube, dass man einen Konflikt erstmal einfrieren kann durch einen Waffenstillstand, aber ein solcher Frieden ist sehr fragil. Die internationalen Akteure und Mächte dürfen den Konflikt nicht weiter instrumentalisieren, und vor allem wird es keinen Frieden geben, bei dem nicht die Verantwortlichkeit aller Beteiligten benannt wird.

Sie haben zu Beginn die Rolle der Religionen angesprochen. Welche Verantwortung müssen deren Vertreter übernehmen?

Alle Religionen haben die Verpflichtung, sich in diesem Konflikt nicht instrumentalisieren zu lassen. Jede Religion hat die Verantwortung, das Friedenspotenzial in der eigenen Botschaft herauszufinden und in diese Prozesse einzubringen. Religion hat dort neben all dem schrecklichen, was sie in der Region bewirkt hat, auch die Möglichkeit, eine seelische Ebene zu erreichen, die für einen solchen Prozess möglich ist.

Wie zum Beispiel?

Damit meine ich zum Beispiel die Dimension der Vergebung. Das ist etwas, was tief eingeschrieben ist in die Religion und auch in den Menschen, was aber durch politische Prozesse allein nicht zu erreichen ist. Die Religionen müssen ihre eigenen Interessen aufgeben und sich in den Dienst der Versöhnung stellen.

Welche Vision für ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten haben Sie? 

Wenn ich diese Frage als Theologe beantworte, dann ist das ein Friede, der daraus wächst, dass die Menschen erkennen, dass alle Geschöpfe Gottes sind. Ich glaube, der Frieden beginnt damit, dass ich die Anderen wieder als Menschen erkenne und nicht als Feinde. Aber das ist leicht von einem Schreibtisch in Münster aus zu sagen und unendlich schwerer in der Region selbst, wenn man Angehörige verloren hat und aus der Heimat vertrieben worden ist. Daher braucht es aber die Friedensstifter in der Region, die medial und politisch häufig zu wenig Stimme bekommen. Da sollten die Religionsgemeinschaften ein Ort sein, wo diese Friedenstifter auch in den Mittelpunkt der Sichtbarkeit und Hörbarkeit gerückt werden.

UPDATE: Veranstaltung fällt aus
Jochen Reidegeld sollte an der Podiumsdiskussion „Wie weiter im Nahen Osten?“ am 12. September im Franz-Hitze-Haus in Münster teilnehmen. Die Akademie teilt mit, die Veranstaltung werde auf Anfang 2025 verschoben: "Der Veranstalter, die Deutsche Initiative für den Nahen Osten (DINO), schätzt die Lage im Nahen Osten derzeit als so unübersichtlich ein, dass selbst Expert/-innenäußerungen zu vorläufig und nach kurzer Zeit schon überholt" seien. | jjo., 11. Sept.

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