An drei Orten Programm zum 85. Jahrestag

544 Menschen deportiert - Münster erinnert an NS-Euthanasie-Morde

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An die Opfer der NS-Zwangssterilisierung und der Euthanasie-Morde erinnern in Münster drei Ausstellungsräume. Eine Spurensuche gilt den 544 deportierten Menschen aus der Heilanstalt Marienthal, von denen nur 23 überlebten.

Über die Opfer der Euthanasie-Morde in der Zeit der Nazi-Diktatur ist nur wenig bekannt. Viele Angehörige schwiegen auch in der Nachkriegszeit – aus Scham oder aus den Zeitumständen, in der Täter und Mittäter kaum belangt wurden und oft „ihre Positionen“ beibehalten konnten. „Um so wichtiger ist es, an die Opfer zu erinnern“, sagte Karin Klas vom Verein „Spuren finden“ in Münster bei der Vorbereitung des Gedenkens.

Zusammen mit der evangelischen Apostelgemeinde, der katholischen Pfarrei Heilig Kreuz, dem Freundeskreis Paul Wulf und der LWL-Klinik in Münster erinnert der Verein mit Ausstellungen und Veranstaltungen an die Opfer der NS-Zwangssterilisierung und der Euthanasie-Morde unter dem Titel „Als ‚lebensunwert‘ entwürdigt“. Gemeinsam mahnen sie zu Wachheit und Widerstand, wo immer heute Menschen als minderwertig entwürdigt werden.

Recht auf Leben und Menschenwürde

„Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben, auf Würde. Und immer wieder gibt es Tendenzen, die dieses Recht und diese Würde beschneiden. Gerade Menschen mit Behinderungen und Erkrankungen haben während des Nationalsozialismus gelitten. Sie wurden verachtet, ausgegrenzt, zwangssterilisiert, schließlich deportiert und ermordet“, sagte Pfarrer Siegfried Kleymann von der Pfarrei Heilig Kreuz.

Anlass der Ausstellungen ist der 85. Jahrestag des Beginns der Euthanasie-Maßnahmen: Ab dem 1. September 1939 – mit Beginn des Zweiten Weltkriegs – setzte die NS-Regierung einen Erlass Hitlers zur Ermordung von Menschen mit psychischen und physischen Behinderungen um. Den Euthanasie-Morden fielen in den folgenden Jahren fast 300.000 Menschen zum Opfer, aus der Heilanstalt Marienthal in Münster wurden nachweislich 544 Menschen deportiert. Von ihnen überlebten nur 23.

Wanderausstellung zur „Aktion T 4“

Gezeigt wird in der Kirche Heilig Kreuz vom 18. August bis 29. September die Wanderausstellung zur „Aktion T 4“. Diese ist benannt nach der Berliner Tiergartenstraße 4. Dort wurde das Mordunternehmen in Gang gesetzt.

Mehr als 70.000 Menschen wurden 1940/41 allein im Rahmen der geheimen „Aktion T4“ in sechs eigens eingerichteten Gaskammern ermordet. Dokumentiert wird ebenso der Kampf des münsterschen Bischofs Clemens August Graf von Galen gegen die Euthanasie. Sein öffentlicher Protest veranlasste schließlich Hitler, das Euthanasie-Programm zu stoppen.

Götz Aly über Bischof Graf von Galen

Der Historiker Götz Aly urteilte darüber einmal so: „Die Kehrtwende Hitlers hatte ein einziger prinzipienfester Mann erzwungen: der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen. Gegen den Willen der feige agierenden katholischen Deutschen Bischofskonferenz und in markantem Gegensatz zu den öffentlich so schweigsamen Landesbischöfen und Würdenträgern der protestantischen Kirchen predigte Galen 1941 an drei Sonntagen hintereinander gegen den ‚glatten Mord‘ an Wehrlosen und gegen das allgemeine Schweigen.“

Gezeigt werden in der Kreuzkirche auch Dokumente aus der Geschichte der damaligen Westfälische Provinzial- und Pflegeanstalt Marienthal und heutigen LWL-Klinik. Die Predigten Galens fußten auf Informationen der in Marienthal arbeitenden Ordensschwester Laudeberta.

Mut einer Putzfrau und einer Ordensschwester

Beim Putzen im Büro des leitenden Arztes hatte eine Angestellte eine Liste mit Namen von Patienten gefunden, die in den kommenden Wochen deportiert werden sollten. Sie schrieb das Dokument ab und gab es der Ordensschwester, die heimlich diese Information an den Bischof weitergab. Schwester Laudeberta selbst sprach Angehörige von Patienten an und veranlasste sie, diese mit nach Hause zu nehmen, um sie vor dem Abtransport zu retten.

„In dieser Geschichte wird auch der Mut der Putzfrau deutlich, die intuitiv gehandelt hat und ein großes Vertrauen zur Ordensschwester hatte“, sagte Karin Klas. Bis heute ist nicht bekannt, wer diese Reinigungskraft in der Pflegeanstalt war.

Erinnerung an Paul Wulf

Zeitlich parallel zeigt eine Ausstellung in der evangelischen Apostelkirche Dokumente aus dem Nachlass von Paul Wulf (1921 bis 1999), einem Opfer der Zwangssterilisation. Die Grundlage der massenhaft durchgeführten Zwangssterilisationen bildete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.

Dieses erste nationalsozialistische Rassegesetz betraf rund 400.000 Menschen im Deutschen Reich, an denen aus „rassenhygienischen“ Gründen eine Unfruchtbarmachung vorgenommen wurde. „Paul Wulf kämpfte in den Nachkriegsjahren lange Zeit vergeblich für seine Anerkennung als NS-Opfer und eine finanzielle Entschädigung“, sagte Bernd Drücke vom Freundeskreis Paul Wulf. Erst spät – 1979 – erhielt Wulf eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Gedenkgottesdienst an der LWL-Klinik Münster

Die LWL-Klinik zeigt Skulpturen und Bilder aus der Psychiatrie und bietet historische Rundgänge auf dem Gelände an. „Diese künstlerischen Zeugnisse zeigen, wie kreativ Menschen mit Erkrankungen sind und wie sehr das Wort vom unwerten Leben menschenverachtend ist“, sagte die evangelische Pfarrerin und LWL-Klinikseelsorgerin Britta Jüngst.

Zum Gedenken an die Opfer des NS-Euthanasie-Erlasses am 1. September 1939 wird es am 1. September um 10 Uhr in der Lukaskirche auf dem LWL-Klinik-Gelände einen ökumenischen Gottesdienst unter dem Thema „Mit Würde und Glanz gekrönt“ geben. Zuvor beginnt ab 9.30 Uhr von den alten Bahngleisen an der Ecke Messkamp/Kinderhauser Straße ein Stationsweg. An dieser Stelle begann die Deportation aus der Heilanstalt Marienthal.

Vortrag über Schwester Laudeberta

Der Kirchenhistoriker Professor Norbert Köster wird am 10. September um 19.30 Uhr in der Heilig-Kreuz-Kirche über das Thema „Wider die Vernichtung unwerten Lebens – Schwester Laudeberta und die Hirtenbriefe des Bischofs von Münster“ sprechen. Das vollständige Veranstaltungsprogramm ist unter www.heilig-kreuz-muenster.de veröffentlicht.

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