Kirche+Leben-Interview mit dem Theologieprofessor aus Münster

Wäre Jesus heute Politiker? Thomas Söding analysiert Neues Testament

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Wie politisch ist das Neue Testament? Wie politisch soll Kirche sein? Und warum ist sie eigentlich etwas Demokratisches? Kirche+Leben fragt Thomas Söding, Professor für Neues Testament an der Universität Bochum.

Herr Professor Söding, Sie schreiben ein Buch über Politik und Neues Testament. Wäre Jesus heute Politiker?

Um Himmels Willen, nein! Er würde auch heute verkünden, wie unendlich nahe Gott den Menschen ist. Aber er wäre politisch nicht neutral. Er würde die Populisten und Diktatoren dieser Welt kritisieren, dass sie sich wie Götter aufspielen. Und er würde all diejenigen stärken, ohne die das politische Gemeinwesen zusammenbräche, auch wenn sie keine Stimme haben.

Manche Leute sagen, die Kirche solle sich aus der Politik heraushalten. Andere sagen, sie sei nicht politisch genug. Was sagen Sie?

Religion muss immer privat sein können, sie ist aber immer auch öffentlich. Hierzulande werden die Kirchen kleiner, sind aber immer noch die mit Abstand größten Organisationen. Sie dürfen sich nicht in eine gesellschaftliche Nische zurückziehen, sondern müssen Flagge zeigen – für Menschenrechte, für inneren und äußeren Frieden, für Solidarität und Nächstenliebe. Peinlich ist das Politisieren von der Kanzel herab – mit viel Meinung, aber ohne hinreichenden Sachverstand und ohne Sinn für politische Abwägungsprozesse.

Was hat Sie veranlasst, jetzt dieses Buch zu schreiben?

Die Frage, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen, ist zurück auf der Weltbühne: Der flammende Fanatismus erschreckt, die Friedensapostel auf leisen Sohlen werden oft übersehen. Selbst in Deutschland, das seine Lektion hätte gelernt haben sollen, ist die Demokratie gefährdet. Sie lebt aber von ethischen Ressourcen, die alles andere als selbstverständlich sind. Sie braucht auch vitale Religion. Nur so wird klar, dass Politik nur Politik ist – und sich auf das konzentrieren darf, was sie kann und soll: Gerechtigkeit in Frieden und Freiheit zu fördern. Das Christentum hat eine Bringschuld, den Zusammenhalt, aber auch die Offenheit der Gesellschaft zu fördern. Das Neue Testament gibt die Impulse.

Für wen haben Sie das Buch geschrieben? Hatten Sie bestimmte Politiker oder bestimmte Kirchenleute vor Augen?

In der Politik begegne ich durch meine Arbeit für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken vielen Verantwortlichen, die vielleicht nicht selbst kirchlich engagiert sind, aber von der Kirche viel erwarten. Was das ist und was nicht, muss ich oft erklären – im Buch habe ich den Platz, es genau zu begründen. In der Kirche geht im Moment viel Energie in die Lösung der selbstgemachten Verfassungskrise. Die Kirche muss aber wieder eine relevante Stimme im politischen Diskurs werden. Das setzt Klarheit voraus, die ohne die Bibel nicht zu haben ist. In der Bibelwissenschaft gibt es weltweit viel Forschung, die nur historisch arbeitet, ohne die Geltungsfragen zu stellen. Aber die Bibel gehört nicht ins Museum, sondern auf das Forum der Gegenwart. Aus allen drei Gründen habe ich das Buch geschrieben.

Wie realpolitisch ist das Neue Testament?

Mit dem Neuen Testament lassen sich nicht Detailfragen der Sozial-, der Rechts-, der Wirtschafts- oder der Bildungspolitik beantworten. Aber ohne das Neue Testament, ohne die Bibel, ohne das Ethos der Weltreligionen auch nicht. Wer immer gleich weiß, was Jesus gewollt hätte, muss sich selbst prüfen, ob er nicht seine eigenen Vorlieben einfach auf die Bibel projiziert und den Fortschritt der Wissenschaft, den Wandel der Kultur schlicht unterschätzt. Wer die Religiosität, die Spiritualität, die Sehnsucht und Hoffnung von Menschen ausblendet, bedient nur eine politische Systemlogik, erreicht aber die Herzen nicht. Mit Jesus kommt die Differenzierung zwischen Politik und Religion in die Welt: Gott zu geben, was Gottes ist – und dem Kaiser nicht mehr und nicht weniger als das, was des Kaisers ist. Diese Botschaft Jesu schafft Freiräume sowohl für verantwortungsvolle Politik als auch für eine Gottesliebe, die erkennt, was an der Zeit ist, weil sie über den Tag hinausträgt.

Demokratie gilt als „beste aller schlechten Staatsformen“. Was hat das Neue Testament zu einem Thema zu sagen, das in der Kirche kaum verwirklicht ist?

Die katholische Kirche macht es sich zu einfach, wenn sie sagt, sie sei keine Demokratie. Der Begriff der Kirche selbst, den das Neue Testament prägt, ist ein demokratischer Begriff: Er meint biblisch die Mitglieder des Volkes Gottes und politisch die Versammlung der stimmberechtigten Bürger einer Stadt. Dass auch Arme und Fremde, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen Stimmrecht haben, gehört von Anfang an zu den Wesensmerkmalen der Kirche. Die Geschichte zeigt, wie oft und stark das Pendel zurückschlägt, aber dass es auch immer wieder neue Aufbrüche gibt. Wir stehen gerade an einem solchen Scheideweg.

Welche Orientierung kann das Neue Testament bei Themen geben, die in seiner Entstehungszeit nicht absehbar waren – zum Beispiel künstliche Befruchtung, assistierter Suizid oder Künstliche Intelligenz?

Thomas Söding ist Seniorprofessor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum, zudem Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Mitglied im Synodalen Ausschuss, dem Folgegremium des Synodalen Wegs der katholischen Kirche in Deutschland, und theologischer Berater der katholischen Weltsynode im Oktober im Vatikan. Er lebt in Münster.

Wer eine politische Ethik des Neuen Testaments schreibt, darf nicht den Eindruck erwecken, man könne alle Fragen dieser Welt durch Exegese lösen. Jeder Biblizismus lähmt. Es gibt neue Erkenntnisse, neue Fragen, neue Methoden, die auch neue ethische Antworten erfordern. Aber immer wird es um die Würde, um die Sorgen und Hoffnungen, die Nöte und Freuden der Menschen gehen. Immer wird es wichtig sein, dass nicht das Paradies auf Erden versprochen wird. Immer braucht es den offenen Himmel, damit das, was sich auf der Erde abspielt, in einem klareren Licht gesehen werden kann. Hier ist das Neue Testament gefragt.

Was sind die drei zentralen Erkenntnisse Ihres Buchs?

1. Wer Jesus glaubt, verachtet die Politik nicht, sondern setzt sich dafür ein, dass Macht in Verantwortung vor Gott und den Menschen ausgeübt wird. 2. Wer Politik treibt, muss der Versuchung widerstehen, sich wie ein kleiner Gott aufzuspielen. 3. Wer weiß, dass Jesus das Reich Gottes verkündet, aber keinen Gottesstaat aufrichtet, sondern Gottes Volk in allen Nationen sammelt, kann Koalitionen mit allen Menschen guten Willens eingehen.

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