Bündnis „Seebrücke“: Appell an humane Flüchtlingspolitik

Christen in Oelde machen auf 52.760 Ertrunkene im Mittelmeer aufmerksam

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52.760 Namen – unter diesem Titel veranstaltet das internationale Menschenrechts-Bündnis „Seebrücke“ zusammen mit der katholischen und evangelischen Kirche in Oelde im Kreis Warendorf am 24. Mai eine Aktion, um auf das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer hinzuweisen. Kirche+Leben hat mit der evangelischen Pfarrerin Madita Nitschke und dem katholischen Pastoralreferenten Philipp Langenkämper über das Mitmachen der Gemeinden gesprochen.

Warum beteiligen sich die katholische Pfarrei und die evangelische Kirchengemeinde in Oelde an der Aktion der „Seebrücke“?

Madita Nitschke: In den Medien sieht man die Bilder von den europäischen Außengrenzen immer wieder. Zahlen und Fakten zu den Bildern werden genannt. Hinter diesen Zahlen stehen Menschen, die gelebt haben, die Träume und Visionen von einem besseren Leben hatten. Deren Namen wollen wir nennen, von ihren Geschichten hören, auf ihr Schicksal, das nach wie vor so viele Menschen trifft, aufmerksam machen. Wir Kirchen und die beteiligten Gruppen haben eine Stimme und können sie denen leihen, die ihre eigene Geschichte nicht mehr erzählen können.

Philipp Langenkämper: Beiden Kirchengemeinden in Oelde ist es wichtig, Humanität nicht nur zu predigen, sondern auch zu leben. Daher waren wir sehr dankbar über die Anfrage der „Seebrücke“, mit der wir auch schon in der Vergangenheit gut zusammengearbeitet haben, um auf die Situation der Asylsuchenden an den europäischen Außengrenzen aufmerksam zu machen. Dieses Thema sollte uns als Kirchen nicht egal sein. Und auch wenn unsere Möglichkeiten zur Einflussnahme vor Ort und politisch begrenzt sind, sind Aktionen, wie die am 24. Mai in Oelde, wichtig, um das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen.

Wie werden Sie den Tag gestalten?

Philipp Langenkämper: Es ist ein Versuch, Liturgie über den ganzen Tag zu gestalten als eine Art „Komm-und-Geh-Liturgie“ mit Texten, Musik und Stille. Die Definition des Theologen Johann Baptist Metz, nach der Religion Unterbrechung sei, kommt an diesem Tag zum Ausdruck: ein kurzes Innehalten im Alltag. Es ist auch ein Versuch, kirchliche Formen und Formate zu finden, die für die Menschen hilf- und segensreich sind, und die zugleich deutlich machen, dass die Kirchen auch noch im 21. Jahrhundert etwas Wichtiges zu sagen haben, nämlich, dass jedes menschliche Leben wertvoll und schützenswert ist.

Madita Nitschke: Das Beschäftigen mit diesem Thema kann viel auslösen. Daher sind wir als Seelsorger und Seelsorgerin für die Menschen da und ansprechbar.

Wie könnte das Drama der Flüchtlinge im Mittelmeer beendet werden?

Madita Nitschke: Wir erleben eine Verschärfung der Asylgesetze in Europa. Der Ruf nach geschlossenen Grenzen wird lauter, das Abschiebeverfahren schneller. Ich sehe es als Aufgabe unserer Kirchen an, uns immer wieder dort mahnend zu Wort zu melden, wo die Rechte von Menschen verletzt werden und auf die Ebenbildlichkeit Gottes in jedem Menschen aufmerksam zu machen.

Philipp Langenkämper: Es steht mir nicht zu, der Politik Ratschläge zu geben. Ich kann auch anerkennen, dass das Thema hochkomplex ist, viele Dinge zusammengedacht werden müssen und es die eine Lösung nicht geben wird. Wir als Kirchen sollten stattdessen den Entscheidungsträgern in der Politik einen Rahmen anbieten und tun das ja auch auf vielen Ebenen, wie beispielsweise Papst Franziskus, die Deutsche Bischofskonferenz oder die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Und ein wichtiger Teil dieses Rahmens ist, dass jede politische Lösung die Grundsätze der Humanität einhält. Die derzeitige Situation verletzt diesen Grundsatz und untergräbt das Fundament unserer europäischen Werteordnung.

Was erwarten Sie von der Flüchtlingspolitik in Deutschland und in Europa?

Philipp Langenkämper: Ich erwarte vor allem eine stärkere Versachlichung des Themas und konstruktive Lösungsvorschläge der Parteien, die humanistischen Prinzipien folgen und auf rechtsstaatlicher Basis beruhen. Ich würde mir aber auch wünschen, dass wir als Bürgerinnen und Bürger der EU auch unsere eigene Verantwortung erkennen und sie nicht nur an die Politikerinnen und Politiker „outsourcen“. Daher wünsche ich mir, dass wir am 9. Juni bei der Europawahl unseren Teil für eine humane Flüchtlingspolitik beisteuern und die Lösungen wählen, die konstruktiv und human sind.

Madita Nitschke: Nackte Zahlen und das „Outsourcen“ schaffen Distanz. Ich wünsche mir, dass die Politik zwar sachlicher wird, sich aber auch nicht hinter Zahlen und Fakten versteckt. Geflüchteten- und Asylpolitik kann nicht technisch verlaufen und stumpf abgearbeitet werden, dafür sind die Umstände und Fluchtgründe zu individuell. Und ich wünsche mir, weiterhin in einem offenen und freien Europa zu leben – das geht aber nicht, wenn wir unsere Augen vor dem verschließen, was bereits 52.760-mal vor und an unseren Grenzen passiert ist und weiter passieren wird. Jeder und jede einzelne der Zahl 52.760 war ein Mensch, mit einer Geschichte, mit einem Namen. Es ist wichtig, ihre Namen zu nennen.

Tag des Innehaltens in Oelde erinnert an Flüchtlingsopfer
„52.760 Namen“ heißt die Aktion, die das internationale Bündnis „Seebrücke“ zusammen mit der evangelischen Gemeinde und katholischen Pfarrei in Oelde im Kreis Warendorf am 24. Mai veranstaltet. In der St.-Johannes-Kirche wird eine 60 Meter lange Papierrolle mit Einträgen von Menschen ausgelegt, die seit 1993 auf der Flucht nach Europa zu Tode kamen. Die Zahl der Toten an Europas Grenzen ist unfassbar groß. Umso wichtiger ist es, diesen Menschen ihre Namen und Geschichten zurückzugeben. Von 9 Uhr bis 19 Uhr werden beispielhaft Geschichten einzelner Geflüchteter vorgetragen. Ergänzt wird das Programm durch Musik und Momente der Stille. Das Netzwerk „United for Intercultural Action“ mit Sitz in Amsterdam trägt seit 1993 die dokumentierten Toten in eine Liste mit dem Titel „Die fatale Politik der Festung Europa“ ein. So wird daran erinnert, dass hinter den Opferzahlen Menschen stehen.

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