Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Beatrice von Weizsäcker

Sichtweisen (8): ZEITLUPE

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Zeit ist Geld, also gilt es, möglichst viel daraus zu machen. Genauso bekannt: Das ist ungesund. 

Früher trug man Armbanduhren. Sie zeigten die Zeit – und sie zeigten, wer man ist. Für manche sind sie immer noch wichtig. Einige tragen sie wie eine Monstranz, wenn auch nicht vor sich her, so doch am Handgelenk. Als Symbol. Als Statussymbol zum Beispiel. 

Heute hat man andere Uhren. Uhren auf Smartphones. Sie können alles, und sie wissen alles. Nur um eines geht es nicht, so oder so: um die Zeit. Ob Rolex oder Apple, die Zeit ist nebensächlich.

Niemand weiß, was Zeit ist

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil niemand weiß, was Zeit eigentlich ist. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein fand die Frage irreführend, weil sinnlos. Ähnlich sah das Jahre später offenbar ein Sprayer, der in Austin, Texas, den Schriftzug hinterließ: „Time is nature’s way to keep everything from happening all at once.“ (Zeit ist eine Methode der Natur, zu verhindern, dass alles auf einmal passiert.) 

Kein Geringerer als Albert Einstein, immerhin Begründer der Relativitätstheorie, stieß ins selbe Horn: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ Von Immanuel Kant stammt der Satz: „Die Zeit ist mit der Welt entstanden und eine Eigenschaft der von Gott geschaffenen Welt.“

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - das sind die “Sichtweisen”, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Tage im Kloster

Was Zeit bedeutet und was nicht, habe ich im Kloster gelernt. Seit ein paar Jahren verbringe ich alljährlich ein paar Tage bei den Benediktinern in St. Ottilien. Zum Fotografieren, um gregorianischen Gesang zu lernen oder um Ikonen zu malen. 

Vor allem aber um zu schweigen. Um Gottes Spuren nachzugehen, sie zu ergründen – in der Kirche, im Freien, überall. Im Himmel und auf Erden, zu jeder Zeit. 

Nichts müssen. Nichts wollen

Und immer allein. Einatmen, lauschen. Ausatmen, staunen. Nichts müssen. Nichts wollen. Nichts wollen müssen. Nichts müssen wollen. Nur schweigen, hören, beten. Beten ohne Worte. Beten hören. Sich beten lassen. Und gebetet werden. Still werden und warten. Warten, bis Gott sich zeigt. Empfänglich werden für das, was Gott mir sein und geben will. Was er mir sagen will, während ich schweige. 

Und dem Engel folgen, der im Elias von Mendelssohn singt: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn; der wird dir geben, was dein Herz wünscht. Befiehl ihm deine Wege und hoffe auf ihn.“

Jedes Mal ist es wie ein Ankommen. Ein Ankommen in Gottes Gegenwart. Ein Nachhausekommen in seine Zeit.

Dann ist Gott zur Stelle

Die Tage vergehen auch im Kloster, natürlich. Aber sie vergehen nicht, wie sie sonst vergehen, mal schneller, mal langsamer. In St. Ottilien bemisst sich die Zeit nach ganz anderen Maßstäben. 

Gewiss, der Rhythmus der Tage wird bestimmt von den Gebeten der Mönche. Und manchmal bricht man auch ein, weil das Draußen nach innen dringt. Doch dann ist Gott zur Stelle.

Eine Zeit, die das Jetzt nie verlässt

Das Leben im Kloster ist wie ein Dahinbewegen in Zeitlupe; ein Schweben, das kein Gestern und kein Morgen kennt. Es ist eine Zeit, die das Jetzt nie verlässt.

In St. Ottilien trage ich keine Armbanduhr. Auch das Handy ist ausgeschaltet. 

Hier orchestrieren die Kirchenglocken den Tag und die Nacht. Sie ordnen die Zeit, die immer Gegenwart ist.

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