Kirche+Leben-Interview: Im August und September beginnen die meisten Freiwilligen

Experte klagt: Kein Freiwilligendienst ohne finanzielle Hilfe der Eltern

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Im August und September beginnen bundesweit Tausende ihre Freiwilligendienste. Doch nicht wenige junge Menschen bleiben außen vor. Woran das liegt und was sich verbessern muss, sagt im Kirche+Leben-Interview Philipp Soggeberg von den „Freiwilligen Sozialen Diensten im Bistum Münster“.

Herr Soggeberg, wie viele Freiwilligendienstleistende betreuen Sie?

In Moment sind rund 770 Menschen in katholischen Einrichtungen im NRW-Teil des Bistums im Einsatz. Der Großteil fängt im August und September an, nach Ende der Schulzeit und der Sommerferien. Wir haben jedoch ein flexibles System, man kann in jedem Monat beginnen, wenn das für die Einsatzstelle passt. Aber die meisten Freiwilligen starten im Spätsommer.

Wie entwickelt sich die Nachfrage?

Wir haben etwa so viele Anfragen wie 2023, es treffen nach wie vor Bewerbungen ein. Über die vergangenen Jahre gesehen geht die Nachfrage leicht zurück.

Woran liegt das?

Philipp Soggeberg ist Geschäftsführer der Gesellschaft „Freiwillige Soziale Dienste im Bistum Münster“ (FSD). Sie begleitet im nordrhein-westfälischen Bistumsteil die Freiwilligen in katholischen Einrichtungen.

Ein Grund könnte sein, dass ein Freiwilligendienst leider eher von Menschen geleistet wird, die in gewisser Weise privilegiert sind. Also Jugendliche, deren Eltern das freiwillige Engagement unterstützen. Das Taschengeld der Freiwilligen ist relativ gering. Davon müssen sie aber meistens ein Nahverkehrs-Ticket finanzieren, um zur Einsatzstelle zu kommen. Oder eine Unterkunft vor Ort, Miete, Verpflegung. Viele Freiwillige sagen, das könnten sie ohne Hilfe ihrer Eltern gar nicht. Wenn junge Menschen diese Unterstützung nicht haben, winken viele, die sich genauer über einen Dienst informieren, gleich ab.

Braucht es also mehr Taschengeld?

Ich finde schon. Ich verstehe die politischen Rufe nach einem sozialen Pflichtjahr an der Stelle nicht. Es wäre doch schon mal ein Anfang und würde vermutlich zu mehr Dienstleistenden führen, wenn der Staat jene besser bezahlen würde, die einen Dienst freiwillig tun wollen. Freiwilligendienstleistende bekommen derzeit weniger als Mini-Jobber. Außerdem gibt es eine Ungleichbehandlung: Für Studierende und Soldaten gibt es Vergünstigungen im Nahverkehr, zum Beispiel beim Deutschlandticket, für Freiwillige nicht. Erst seit Mai ist es erlaubt, dass Dienststellen Tickets für ihre Freiwilligen bezuschussen – zusätzlich zum Taschengeld. Aber das kann nicht jede Einsatzstelle finanzieren.

Apropos Dienststellen: Sind alle Plätze besetzt?

Die Freiwilligendienste
Mit der Aussetzung des Wehrdienstes ist auch der Zivildienst entfallen. Dafür hat die Bundesregierung 2011 den Bundesfreiwilligendienst (BFD) ins Leben gerufen. Er richtet sich an Frauen und Männer jeden Alters und dauert in der Regel zwölf Monate.

Wie der BFD zielen auch das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und das Freiwillige Ökologische Jahr darauf ab, freiwilliges, gemeinwohlorientiertes Engagement zu fördern. Im Unterschied zum BFD richten sich FSJ und FÖJ ausschließlich an Menschen zwischen 16 und 27 Jahren. Bei Dienstzeit, Taschengeld und Sachbezügen gelten grundsätzlich dieselben Vorgaben wie beim BFD. | KNA

Nein. Wir haben im NRW-Teil des Bistums mit bis zu 1.000 Einrichtungen zu tun, die Stellen für Freiwillige anbieten. Einige werden aus geografischen Gründen nicht besetzt – wenn eine Einsatzstelle am Niederrhein sucht, wir aber eine Bewerberin aus dem Ostmünsterland haben. Außerdem gibt es – vor allem kleine – Einrichtungen, die nicht jedes Jahr einen jungen Menschen beschäftigen, weil sie die Kosten nicht tragen können. Im Prinzip suchen viele Einrichtungen aber händeringend. Angesichts des Fachkräftemangels ist ein Freiwilligendienst, der ja ein Lern- und Orientierungsjahr ist, auch eine wichtige Werbungsmöglichkeit für Nachwuchs.

Wo besetzen Sie mehr Stellen, im Bundesfreiwilligendienst oder beim Freiwilligen Sozialen Jahr?

Das tut sich nicht viel. Den Freiwilligen ist nicht wichtig, wie der Dienst heißt, sie möchten sich ein Jahr lang freiwillig engagieren. In der Praxis macht das kaum einen Unterschied.

Mehr Taschengeld würde Freiwilligendienste Ihrer Ansicht nach attraktiver machen – was noch?

Wir fordern einen Rechtsanspruch auf staatliche Förderung. Das heißt nicht, dass der Staat jedem und jeder einen Platz anbieten muss wie bei Kitas. Sondern: Wenn ein Jugendlicher und eine Einsatzstelle einen Vertrag schließen, dann sollte es auch die Fördergelder für den Platz geben. Die Träger haben nämlich ein dauerhaftes Finanzierungsproblem.

Warum?

Das Bundesfamilienministerium hat mit vielen Rechtsansprüchen zu tun, zum Beispiel bei Kita-Plätzen. Deswegen wird am ehesten dort Geld gekürzt, wo es diese Vorgabe nicht gibt, zum Beispiel bei den Freiwilligendiensten.

Das hat das Ministerium jüngst dementiert. Im Bundeshaushalt 2025 sei genauso viel Geld für Freiwilligendienste vorgesehen, wie 2023 tatsächlich abgerufen worden sei.

Das hilft aber nicht. In keinem Jahr werden die Träger die komplette Summe abrufen, weil es immer wieder junge Menschen gibt, die ihren Freiwilligendienst ein oder zwei Monate vor Ende abbrechen. Die Stelle kann dann oft nicht für nur wenige Wochen nachbesetzt werden und wird in der Vakanz nicht gefördert. Wird also immer die Summe eingestellt, die im Vorjahr abgerufen wurde, ist das eine Abwärtsspirale, eine Kürzung. Ein weiteres Problem ist: Der Bund denkt in Kalenderjahren, die Träger in Kursjahren. Für die Freiwilligen, die im Sommer begonnen haben, müssen wir bis Mitte 2025 planen – mit dem Geld, das heute absehbar ist. Wenn der Bundeshaushalt spät beschlossen wird und womöglich mehr Geld fließt, kommt das vielen Trägern kaum zugute. Nicht jeder Träger ist so flexibel, dass er im Januar oder Februar noch Bewerberinnen und Bewerber hat, um Stellen nachzubesetzen.

Wenn Haushaltsmittel sinken, könnte man nicht weniger und dann ausreichend unterstützte Stellen anbieten?

Nein. Die Pro-Kopf-Förderung ist seit Jahren gedeckelt.

Außer Geld: Was könnte helfen, die Attraktivität der Freiwilligendienste zu verbessern?

Ich wünsche mir, dass die Dienste öffentlich besser wahrgenommen werden. An vielen Schulen gibt es Angebote zur Berufsberatung. Da ist aber nur selten die Rede davon, dass die jungen Menschen Freiwilligendienste leisten können. Was wäre denn, wenn es einen Brief des Landesschulministeriums oder des Bundespräsidenten an alle Abgangsklassen gäbe, der ihnen diese Möglichkeit vorstellt?

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