Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Stephan Wahl

Sichtweisen (13) WEITERTRAGEN

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Sein Leben zu geben, um die eigenen politischen Überzeugungen durchzusetzen, ist alles andere als selbstverständlich. Willi Graf, NS-Widerstandskämpfer in der „Weißen Rose“, hat es getan und den Auftrag formuliert: „Weitertragen“. Diese Verpflichtung gilt auch heute weiterhin.

„Sage auch allen anderen Freunden meinen letzten Gruß. Sie sollen weitertragen, was wir begonnen haben.“ Diesen Gruß formulierte Willi Graf kurz vor seiner Hinrichtung am 12. Oktober 1943. Der Gefängnisgeistliche in München-Stadelheim, Kaplan Heinrich Sperr, stenografierte ihn, brachte ihn heimlich aus dem Gefängnis und übermittelte ihn seiner Familie. Er war an seine Schwester Anneliese gerichtet. Sie war mit ihm zusammen verhaftet worden, kam aber später frei, weil sie über seine Aktionen in der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ nicht informiert war. Zeitlebens hat sie einerseits damit gehadert, dass ihr Bruder, mit dem sie in München studierte, sie in die Pläne ihrer Gruppe nicht eingeweiht hatte, wusste aber genauso, dass ihr dieses Schweigen das Leben gerettet hatte.

Umso mehr fühlte sie sich dem letzten Auftrag ihres Bruders verpflichtet: „Weitertragen.“ Ihr gesamtes Leben war Anneliese Knoop-Graf unermüdlich unterwegs, um in ihren Vorträgen das Anliegen ihres Bruders und der Weißen Rose „weiterzutragen“. Sie suchte den Kontakt unter anderem mit Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, um ihre Erfahrungen mitzuteilen und leidenschaftlich vor einer Wiederkehr rechtsradikaler Bewegungen zu warnen.

Heute ist Saarbrücken stolz auf Willi Graf

Das war nicht immer willkommen. Ihre ältere Schwester Mathilde, die in kleinerem Rahmen, aber ebenso engagiert in Schulen an ihren Bruder und sein Vermächtnis erinnerte, erzählte immer, wie uninteressiert ihre Nachbarn lange Jahre an Willis Geschichte waren und nicht damit konfrontiert werden wollten. Das änderte sich sehr, heute ist Saarbrücken stolz auf seinen berühmten Sohn, eine Schule trägt seinen Namen und ihm wurde posthum die Ehrenbürgerschaft verliehen.

Das ist alles auch ein Verdienst seiner beiden Schwestern, die ich beide kennenlernen durfte und ihnen langjährig verbunden war. Mich hat immer sehr bewegt, wie authentisch sie von ihrem Bruder und ihrer Familie erzählten. Die katholischen Grafs waren alles andere als nazifreundlich, aber auch keine ausgesprochene Widerstandsfamilie. Willi war mit seinen Überzeugungen mehr auf sich selbst gestellt und seinen Eltern wäre es lieber gewesen, er hätte sich mehr zurückgehalten und sich und seine Familie nicht in Gefahr gebracht.

Doch ihre innere Haltung war klar und äußerte sich manchmal auf sehr pragmatische und unaufgeregte Weise. Mathilde erzählte immer gerne schmunzelnd, dass Ihre Mutter, eine waschechte Rheinländerin, wenn Sie auf der Straße mit dem üblichen „Heil Hitler“ begrüßt wurde, gerne sehr freundlich-deutlich antwortete. „Auch Ihnen einen schönen, juten Tach!“

Christen sollten sich Grafs Auftrag verpflichtet fühlen

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke – das sind die „Sichtweisen“, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Willi Grafs Schwestern sind mittlerweile verstorben. Der Auftrag ihres Bruders bleibt aber bestehen und ist leider so aktuell wie nie. Menschenverachtende, rechtsradikale und faschistoide Bewegungen vergiften mit ihren Parolen unser Land. Mathilde und Anneliese hätte es sich nicht träumen lassen, dass es noch einmal eine Zeit geben würde, in der sich eine „Partei“ wie die AfD wie eine gefährliche Krake in unsere Parlamente setzt.

Allen, die jetzt den Mund aufmachen und auf ihre Weise der braunen Gefahr entgegentreten, sind die, die jetzt auf ihre Weise „weitertragen“. Besonders Christen, egal welcher Konfession, sollten sich diesem Auftrag verpflichtet fühlen. Vor dem letzten diktierten Gruß an seine Schwester konnte Willi Graf noch selbst einen Brief an seine Familie schreiben. Er endet mit „Seid stark und voller Gottvertrauen!“ Das sollte auch heute Kraft für das „Weitertragen“ geben.

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