Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Jan Frerichs OFS

Sichtweisen (16): ENTSPANNTHEIT

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Work-life-balance ist total wichtig, sagen viele Menschen. Hier die Arbeit, da die Freizeit. Hier der Stress, da das Nichtstun. Funktioniert aber nicht wirklich.

In den vergangenen Jahren ist das Stresslevel in Deutschland immer weiter gestiegen. In einer großen Umfrage dazu, die regelmäßig durchgeführt wird, gibt mittlerweile mehr als ein Viertel der Befragten an, häufig gestresst zu sein, vor allem beruflich. Das ist Stressfaktor Nummer eins: Arbeit.

Die Wissenschaft hat nun festgestellt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, dem Stress zu begegnen. Entweder, Nummer eins: Ich ändere die Situation, also die äußere Ursach. Oder, Nummer zwei: Ich ändere meine emotionale Einstellung dazu.

Konsequente Trennung

Ich würde sagen, die meisten Menschen tun weder das eine noch das andere. Jedenfalls steht das so in der großen Stress-Erhebung. “So schaltet Deutschland ab”, ist der Titel. Abschalter Nummer eins: Hobbys, dann Gartenarbeit, Spazieren gehen, Faulenzen, Musik machen, ein Ehrenamt ausüben und so weiter. Mich erstaunt der Titel, denn über all diesen Dingen könnte ja auch die Überschrift stehen: So lebt Deutschland. Die Studie zeigt, wie wir in unserer Kultur konsequent Lebenszeit und Arbeitszeit trennen. Stress hier und Entspannung dort. 

Doch ich frage mich, ob das wirklich hilft. Dadurch wird ja nicht die äußere Ursache von Stress verändert, denn wir arbeiten ja nach der Entspannung in der gleichen Weise weiter. Interessant ist, dass die meisten Frauen angeben, dass es die eigenen Ansprüche an sich selbst sind, die ihnen Stress machen. Und auch daran ändert sich ja nichts, wenn ich mich in der Freizeit beim Faulenzen entspanne, der Anspruch bleibt gleich.

Macht das alles Sinn?

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - das sind die “Sichtweisen”, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Was mich erstaunt: Auf dieser Liste gegen den Stress gibt es nur einen einzigen Punkt, der vielleicht gerade noch irgendwie mit Spiritualität zu tun hat: Auf dem letzten Platz „Yoga, autogenes Training oder andere Entspannungstechniken“. Ein bisschen mehr als ein Fünftel der Befragten gibt das an als Hilfsmittel gegen Stress.

Ich musste an ein Zitat von Götz Werner denken, dem Gründer der Drogeriemarktkette "dm". Er ist ja bekannt dafür, dass er sein Unternehmen etwas anders geführt hat. Er sagt: „Streichen Sie die Begriffe ‘Arbeitszeit’ und ‘Freizeit’ aus Ihrem Wortschatz. Ersetzen Sie diese durch ‘Lebenszeit’ und fragen Sie sich: Macht das alles Sinn, was ich hier mache?“

“Leihgabe des Alls”

Was wäre, wenn wir nicht Entspannung suchen würden, sondern so etwas wie Entspanntheit. Etwas, das meinen Horizont weitet und Raum schafft für die Frage nach dem Sinn: Was mache ich hier eigentlich? Was will ich? Wer bin ich? Wer kann ich sein? Etwas, das mich er-innert daran, wer ich bin. Ein geliehenes Ich, das Anteil hat am Universum. Eine „Leihgabe des Alls“. 

Ich bin ziemlich überzeugt, dass es eigentlich diese Erinnerung ist, die wir suchen und brauchen, wenn wir unserem Stress begegnen wollen. Es sind vielleicht gar nicht unsere Körper, die müde, gestresst, angestrengt sind. Es sind unsere Seelen, die sich nach Entspanntheit sehnen, nach Weite, nach Sinn, nach Natur, nach Abenteuer. 

Wir brauchen nicht mehr Schlaf, sondern im Gegenteil, wir brauchen Erwachen.

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