Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Stephan Wahl

Sichtweisen (14) KOEXISTIEREN

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Wie verschieden wir Menschen sind – und doch so gleich, weil wir Menschen sind. Reicht die Erkenntnis für Frieden, ohne sich was vorzumachen?

Wenn ich hier bei uns in Jerusalem in der Straßenbahn sitze, die so unterschiedliche Stadtviertel passiert, denke ich oft, Frieden müsste doch in dieser verwundeten Stadt leicht möglich sein. Alle benutzen sie. Man sieht zwei junge orthodoxe, jüdische Ehepaare, die mit ihren insgesamt dreizehn Kindern in die Bahn einsteigen, und neben einem Muslim aus Sheik Jarrah, der seine Gebetskette durch die Finger gleiten lässt, steht ein griechisch-orthodoxer Mönch mit zwei voll bepackten Einkaufstaschen. Gegenüber von zwei palästinensischen Frauen mit Hidschab sitzt eine ultraorthodoxe jüdische Frau aus Giv’at ha Mivtar mit der obligatorischen Perücke und liest leise in ihrem kleinen Gebetbuch. Drei Mädchen aus der israelischen Siedlung Pisgat Ze’ev unterhalten sich kichernd über den neuesten Schul-Tratsch, während daneben palästinensische Jungs aus Shu’afat mit ihren Smartphones hantieren und eine grell geschminkte säkulare Israelin irgendeinen Zoff mit einem Bekannten hat, den sie lautstark via Handy austrägt.

Es geht doch, Leute, denk’ ich mir dann … Warum kann das nicht immer so und überhaupt grundsätzlich so sein? Denn leider täuscht der „Friede in der Straßenbahn“. Die Gräben zwischen Israelis und Palästinensern sind tief, und seit dem 7. Oktober sind es Schluchten. Trotzdem geht das „normale“ Leben in der Stadt fast unverändert weiter. Es wird gelacht, gestritten, eingekauft, gebetet...

Life must go on

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke – das sind die „Sichtweisen“, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

„Seltsamerweise, paradoxerweise bringen wir es fertig, glücklich zu sein, auch im Schatten der Drohung“, schreibt Klaus Mann in seinem „Wendepunkt“. Das Wort „glücklich“ würde ich jetzt so nicht verwenden, es ist eher ein „Life-must-go-on“, das trotz allem spürbar ist. Man lebt nicht im Frieden, es ist eine Art sich aushaltender Koexistenz. 

Darin hat Jerusalem lange Übung. Nicht nur zwei Völker koexistieren in dieser Stadt, für die drei großen Religionen trifft das auch zu. Man ist nicht verfeindet, aber die Freundschaft zwischen Christen, Juden und Muslimen ist „übersichtlich“. Man bleibt unter sich. Meistens jedenfalls.

Kartoffeln aufsetzen zum Muezzinruf?

Fünfmal am Tag höre ich den Ruf des Muezzins, wenn er zu den unterschiedlichen Gebetszeiten ruft. Irgendwann im letzten Jahr habe ich mich gefragt, was ich in diesen Minuten mache. Ich bin Christ, das muslimische Gebet kann ich nicht sprechen. Aber soll ich weiter meinen Kaffee trinken, Wäsche aufhängen, meine Texte schreiben, die Kartoffeln aufsetzen oder in Domins Gedichten lesen, als ginge mich das alles nichts an? 

Was die drei koexistierenden Religionen verbindet, ist der „Eine Gott“. Kann ich, so hab ich mich gefragt, auch ein Gebet sprechen, wenn der Muezzin zum Gebet ruft, oder wenn die Sirene den Shabbat ankündigt?

Ein Gebet für alle

Ich kann. Ich suchte in mir einen Text, den wir alle sprechen könnten. Juden, Christen, Muslime. Das Pilgergebet meines Heimatbistums Trier wies mir den Weg: „Allmächtiger, Ewiger, du bist der Einzige. Niemand ist Gott außer dir. Gepriesen sei dein heiliger Name. Erbarme dich über uns und die ganze Welt, gedenke deiner Menschheit und führe zusammen, was getrennt ist.“ 

Ich versuche es fünfmal zeitgleich zu sprechen. Es geht schon fast automatisch. Manchmal schaffe ich es auch nur zweimal oder einmal … Eine Brücke zu allen, die hier leben, in dieser heilig-unheiligen Stadt Jerusalem. Und dabei gebe die illusorisch erscheinende Hoffnung nicht auf, dass aus der Koexistenz der Völker und Religionen dann doch, irgendwann, trotz allem, ein alle erfüllender, bleibender Friede wachsen möge.

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