Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Jan Magunski

Sichtweisen (21) GESANG

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“Wer singt, betet doppelt”, wusste der heilige Augustinus. Weil Gesang wohl die Seele in Schwingung bringt. Und nicht nur die eigene.

Unser Musiklehrer am Gymnasium hinkte seiner Zeit ziemlich hinterher. Ein bisschen verschroben und oft gesundheitlich angeschlagen lebte er - nicht nur musikalisch - in seiner ganz eigenen Welt. Während andere Pädagogen sich mit ihren Klassen auch der damals neu aufkommenden so genannten E-Musik widmeten und allen technischen Fortschritt für einen abwechslungsreichen Unterricht nutzten, lag sein Haupt-Augenmerk darauf, mit uns zu singen.

Dann saßen wir alle in unseren Bänken oder versammelten uns um den Flügel, um alte Choräle, ab und zu modernere Chansons, vor allem aber zeitlose Volks- und Fahrtenlieder anzustimmen. Wer Geburtstag hatte, durfte sich sogar ein Stück aussuchen. Aber auch das half nichts: Keiner nahm ihn so richtig ernst.

„Ich glaub an einen Gott, der singt“

Dabei muss ich zugeben, dass ich diese Stunde Abwechslung im Schulalltag sogar genießen konnte - mal keinen Druck zu erleben, sondern vielmehr ein echtes Gemeinschaftserlebnis: wie aus denen, die sonst oft genug um Noten und Positionen miteinander konkurrierten, mit Hilfe der Musik plötzlich doch fast so etwas wie eine Einheit wurde - über alle Grenzen, Unterschiede und Äußerlichkeiten hinweg…

Wenn ich sang (insbesondere Spirituals oder geistliche Stücke, aber nicht nur die), wusste ich mich zudem in einer Tradition mit Miriam, Mose und David oder dem Verfasser des „Hohen Liedes“ in der Bibel, die alle schon vor Jahrtausenden gespürt hatten, dass sie die Musik - so wie das Glück und ihr ganzes Leben - einer höheren Macht verdankten, die sie Gott nannten. In der französischen Kirche wird bis heute ein wunderbares Credo angestimmt: „Je crois en Dieu qui chante“ – „Ich glaub an einen Gott, der singt“.

Alltag in Liedern

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - das sind die “Sichtweisen”, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Später ist mir ferner aufgegangen, dass das Liedgut eines Landes immer auch Teil der Volksseele und Ausdruck von Allgemeinbildung ist – ja, Einblicke gibt, wie die Menschen vergangener Generationen gelebt und gedacht haben. 

Ob Tages-, Jahres- oder Lebenslauf, so viele alltägliche Erfahrungen haben sie in ihren Gesängen verarbeitet und ihren Nachfahren damit ein einmaliges Stück Zeitgeschichte hinterlassen. Alle kleinen und großen Gefühle fanden Eingang in einfache oder vielstrophige Lieder: auch um Freude zu teilen oder Schmerz und Trauer zu verarbeiten.

Unterm erleuchteten Kirchendach

Selbst wenn wir Deutschen weit entfernt von den Gesangstraditionen etwa des Baltikums sind, so spürt man doch auch hierzulande die besondere und einigende Kraft der Musik. Und so beliebt und begeisternd Disco-Abende im Ferienlager auch sein mögen: Das gemeinsame Sitzen und Singen ums Lagerfeuer bei hereinbrechender Dunkelheit entfaltet nach wie vor seinen ganz eigenen Reiz, gerade auch in der Medienwelt unserer Tage. 

Und wenn meine ehemaligen Ministrantinnen und Ministranten aus Münster vor einem gemeinsamen Messdiener-Wochenende in Schillig schon Wochen vorher anfragen, ob wir am Samstagabend im Kerzenschein unter dem blau erleuchteten Kirchendach von St. Marien sitzend Psalmen, Hymnen und andere christlichen Weisen singen können, dann geht mir das Herz auf.

Unser Musiklehrer am Gymnasium war seiner Zeit ziemlich voraus.

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