Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Jan Magunski

Sichtweisen (20) ZUGVÖGEL

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Wohin geht die Reise unseres Lebens? Wie viel Mut braucht es, sich aufzumachen! Das machen uns die Vögel gerade ordentlich vor. Und sagen in ihrer Vielfalt viel über uns selbst.

Manch einer blickt in diesen Tagen unweigerlich nach oben, wenn hoch über ihm plötzlich ein aufgeregtes Krächzen und Schreien zu vernehmen ist, wenn in luftiger Höhe und bilderbuchmäßiger Formation die aus dem Norden kommenden Wildgänse oder Reiher nach kurzem Zwischenstopp in unseren Breiten ihren Weg nach Süden fortsetzen, wenn sie sich, vollgefressen für die große Reise, auf den Weg in ihr Winterquartier machen. Auch wenn viele - bedingt durch den Klimawandel - ihre Routen verkürzt haben und mittlerweile statt in Afrika in Südeuropa überwintern, so tragen sie doch alle seit unendlichen Generationen einen untrüglichen Kalender, ein natürliches, vollkommenes Gespür in sich, wann es Zeit ist, so wie schon unzählige ihrer Vorfahren aufzubrechen in wärmere Gefilde.

Gleichzeitig gibt es andere, die mit ebenso großer Selbstverständlichkeit noch nie auf die Idee gekommen sind, ihr Lebensumfeld zu wechseln und sich auf die Reise zu machen, die seit eh und je in unseren Breiten überwintern und sich hier ohne mit der Feder zu zucken bestens an die wechselnden Gegebenheiten anpassen.

Seltsame Vögel … 

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - das sind die “Sichtweisen”, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Die in diesen Wochen in vielen Teilen Norddeutschlands stattfindenden Kranichwochen, Wildgans- oder Zugvogel-Tage sollen Anlass sein, einmal näher auf unsere gefiederten Freunde zu schauen und in ihnen womöglich auch einen Spiegel für eigene Rast- und Ruhelosigkeit oder eine ausgeprägte, nie hinterfragte Heimatliebe zu sehen...

Ich denke an unsere Dompfaffe und alle, die in der Kirche Verantwortung tragen. An unsere Nachtigallen und alle, die mit ihrem Gesang andere erfreuen.
Ich denke an unsere Gänse und alle, die manchmal genauso schnippisch sein können.
Oder an unsere Pfaue und alle, denen man nachsagt, stolz zu sein.
Ich denke an unsere Wanderfalken und alle, die gern unterwegs oder auf der Suche sind. Und an unsere Zaunkönige oder alle, die im Kleinen groß sind.
Ich denke an unsere Lachmöwen und alle, denen Heiterkeit nicht fremd ist. An unsere Turteltauben und alle, die im Moment frisch verliebt sind.
Ich denke an unsere Kuckucke und alle, die im Alltag mit nicht ganz fairen Mitteln spielen. Oder an unsere Steinkauze und alle, die im Alter ein bisschen kauzig werden.
Ich denke an unsere Meisen und alle, die sich selbst nicht zu ernst nehmen. Und an unsere Schnatterenten und alle, die viel zu erzählen haben.
Ich denke an unsere Haubenlerchen und alle, die in einem Orden unbezahlbare Dienste tun. Genauso wie an unsere Stare und alle, die gern im Rampenlicht stehen.
Ich denke an unsere Kernbeißer und alle, die derzeit eine harte Nuss zu knacken haben. Oder an unsere Grünfinken und alle, die noch grün hinter den Ohren sind.
Ich denke an unsere Schleiereulen und alle, die erst wach werden, wenn andere schlafen gehen. An unsere Austernfischer und alle, die am Meer zu Hause sind.
Ich denke an unsere Strauße und alle, die gern schon mal den Kopf in den Sand stecken. Und schließlich an unsere Buntspechte und alle, die bei uns anklopfen.

Spätestens im nächsten Frühjahr heißt es wieder: „Alle Vögel sind schon da!“ Aber es macht auch Freude, sich von Zeit zu Zeit mit großzügigem, warmherzigem Weitblick einmal umzusehen, welch bunte, mitunter einzigartige Vögel ganzjährig unter uns leben ...

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