Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - von Jan Frerichs OFS

Sichtweisen (17): SEELE

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Früher hat man, wenn ein Mensch starb, das Fenster geöffnet. Damit die Seele hinaus kann. Und heute? Was ist die Seele überhaupt?

Vor 20 Jahren ist meine Großmutter gestorben. Bei einem Autounfall. Ich erinnere mich sehr gut an das Bild, als sie aufgebahrt dort lag in der Trauerhalle.

Meine Großmutter war nicht die erste Tote, die ich gesehen habe. Ich hatte Zivildienst im Krankenhaus gemacht und bei allen Menschen, die ich habe sterben sehen, ist mir dieser Moment aufgefallen, der ja auch in unsere Sprache übergegangen ist, wenn jemand das Leben aushaucht. Der letzte Atemzug. Und dann gibt es so einen Moment, in dem der Körper sich auf eine ganz bestimmte Weise entspannt.

Als ich meine Großmutter da liegen sah, aufgebahrt, ist mir aufgefallen, dass etwas gefehlt hat. Das war zwar meine Großmutter, aber das, was sie ausgemacht hatte für mich, ihre Wärme, ihr Lächeln, ihre Persönlichkeit, ihr Charakter, ihre Aura, ihre Energie - all das war weg. Ich glaube, all das nennen wir Seele.

Ein schillerndes Wort

Seele ist freilich ein schillerndes Wort. Es gibt Erfahrungen, die mit dem Wort verbunden sind, aber es gibt keine feststehende Definition. Wir können auch nicht einfach auf die Seele zeigen oder sie in die Tasche stecken oder irgendwo in den Schrank stellen. Aber wir meinen etwas, wenn wir Seele sagen.

Die meisten Menschen stellen sich Körper und Seele als zwei getrennte paar Schuhe vor. Der Körper ist in dieser Vorstellung sterblich, die Seele unsterblich. Aber wie soll unser Alltagsbewusstsein etwas erfassen können, das über seine Grenzen hinausgeht? Mit der Seele ist es wie mit dem ganzen Universum. Wir können ja im Prinzip immer nur von innen auf das Universum schauen, eben von dem Punkt aus, an dem wir uns im Universum befinden. Wir können nicht hinaustreten und sagen: Oh, schau mal, das Universum ist aber eine hübsche Kugel. Wir sind ein Teil dieses Universums. Wir sind immer in diesem Universum.

Teil des Ganzen

SICHTWEISEN
Ein Wort, ein Bild, ein Gedanke - das sind die “Sichtweisen”, die einmal in der Woche ins Nachdenken bringen wollen, Welten eröffnen, Leben entdecken, Gott suchen helfen. Menschenlebensnah und gottverbunden. Jeder Monat wird von einer Autorin oder einem Autoren textlich gestaltet; die Redaktion von Kirche+Leben sucht zu dem jeweiligen Stichwort frei ein Foto.

Und genau so können wir uns das auch mit der Seele vorstellen: Wir schauen immer von innen, „aus uns selbst heraus“, aus einem weiten Bewusstsein heraus, das selbst ein Teil des Ganzen ist und sich selbst als Teil des Ganzen weiß. Seele ist nicht irgendetwas in uns. Nein, wir leben in der Seele. Und zwar körperlich. Körper und Seele bilden eine Einheit. Und das heißt nicht, dass beide identisch sind, sondern sie bedingen einander.

Da ist also nicht die Seele, die übrig bleibt, wenn wir sterben, und der Rest ist Müll. Der Körper ist nicht bloß das Gefäß oder sogar ein Gefängnis für die Seele, sondern die ganze Welt ist körperlich - es gibt kein anderes Medium als diese Welt und Körper. Wir sind Körper. Und wir sind Seele. Körper und Seele sind eins - sie bilden eine Einheit. Deshalb ist das Und so wichtig für diese Perspektive: Das Und ist ein Ausdruck dieser Einheit. Nicht entweder Körper oder Seele, sondern Körper und Seele.

Das ist übrigens keine Jan-Frerichs-Privatphilosophie, sondern eigentlich die gute alte jüdisch-christliche Tradition. Immer wieder hat es Streit gegeben um diese Einheit von Körper und Seele, aber bis heute ist diese Einheit praktisch die offizielle Lehre der Kirche.

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