Thomas Söding zur Aufgabe der ganzen Kirche

Die Kirche braucht die Prophetie

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Braucht es heute noch Propheten, die ihre Stimmen erheben? Ja, unbedingt, sagt Theologie-Professor und ZdK-Vizepräsident Thomas Söding in seinem Gast-Kommentar, und sieht die gesamte Kirche in der Pflicht.

Wo sind die Menschen, die heute prophetisch die Stimme erheben? Sie werden gebraucht, um die Zeichen der Zeit zu deuten, die Vergangenheit zu verstehen und die Zukunft zu planen.

Das Vorurteil: Prophetie gehört in die Geschichte, nicht in die Gegenwart. Bei der Prophetie habe man nur an biblische Gestalten wie Amos und Mirjam zu denken, aber nicht an aufgeweckte Leute von heute. Der katholische Ballast: Das Amt der Prophetie werde von den Bischöfen ausgeübt; denn ihnen obliege das authentische Lehren, die verbindliche Schriftauslegung, die normative Zeitansage.

Prophetie ist wache Vernunft

Aber das Lehren ist die argumentativ schlüssige Darlegung der Glaubenswahrheit. Die Prophetie ist ein anderes Charisma. Sie ist keineswegs ein wilder, unkontrollierter, spontaner Ausbruch. Prophetie ist wache Vernunft, sensible Zeitgenossenschaft, spirituelle Klarheit.

Seit Pfingsten ist klar: Prophetie gehört zur Kirche wie der Heilige Geist zu Gott. Nicht ob, sondern wo es sie gibt, ist die Frage. Eine klassische Antwort: Es sind die Heiligen unserer Tage, der Franz von Assisi, die Katharina von Siena, die Therese von Lisieux und der Adolph Kolping von heute. Woran kann man sie erkennen?

Eine Aufgabe der ganzen Kirche

Der Autor
Thomas Söding ist Professor für die Exegese des Neues Testaments an der Ruhr-Universität Bochum. Als Berater der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz und Vizepräsident des Synodalen Wegs engagiert er sich für Reformen in der katholischen Kirche. Er lebt in Münster.

Die Bibel öffnet die Augen. Erstens: Prophetie gibt es nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Gottesvolkes; denn Gottes Geist weht, wo er will (Joh 3,8). Zweitens: Wunder beweisen gar nichts. Prophetie stärkt die Liebe zu Gott; sie führt zum Verstehen und Befolgen des Gebotes; nicht zuletzt macht sie Zeitansagen, die sich als wahr herausstellen (Dtn 13.18). Nachteil und Vorteil zugleich: Das wird sich immer erst im Nachhinein herausstellen. Prophetie braucht Resonanz.

Kriterien? Nicht die Überwältigung durch einen Menschen, der beansprucht, im Namen Gottes zu sprechen, ist Prophetie, sondern die aufgeschlossene und kritische Auseinandersetzung mit allen, die sich auf Gott berufen. Dienen sie ihren Mitmenschen oder sich selbst? Wollen sie anderen ihren Willen aufdrücken oder Gott eine Tür öffnen? Wollen sie die Definitionshoheit haben oder den Finger an den Puls der Zeit legen?

Prophetie ist nicht nur die Gabe von wenigen. Sie ist eine Aufgabe der ganzen Kirche: hellhörig für Gottes Wort in den Worten von Menschen zu werden und hellsichtig für seine Spuren im Lauf der Welt.

In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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