Louis Berger über Gemeinschaften mit Anziehungskraft

Charismatische Spiritualität: Die unterschätzte Gefahr

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Sind charismatische Bewegungen ein probates Mittel gegen die Überalterung der katholischen Kirche in Deutschland? Oder muss man ihnen eher mit einer kritischen Distanz begegnen? Louis Berger, Volontär an der Katholischen Journalistenschule ifp, hat im neuen Kirche+Leben-Format „Junger Kommentar“ eine klare Haltung.

Die katholische Kirche in Deutschland leidet an Überalterung. Laut aktueller Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kehren ihr vor allem junge Menschen den Rücken, übrig bleiben die Älteren. In dieser Lage verweisen Gläubige immer wieder auf charismatische Bewegungen: Orte wie das vom Theologen Johannes Hartl geleitete Gebetshaus Augsburg seien Ausgangspunkt einer lang ersehnten Neuevangelisierung Deutschlands.

Ja, dieser Verweis ist mit Blick auf die 11.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Ausgabe von Hartls Glaubensfestival „MEHR“ verführerisch. Zum Vergleich: Der Stuttgarter Katholikentag 2022 verzeichnete nur noch 27.000 Besucherinnen und Besucher.

Beeindruckende Zahlen sind aber allein kein Argument, sie sagen letztlich wenig über die Qualität solcher Angebote aus. Die großen Gefahren, die von charismatischer Spiritualität ausgehen können, werden immer noch unterschätzt.

Habe ich zu wenig geglaubt?

Charismatische Bewegungen setzen zwar auf das Gemeinschaftserlebnis, lassen die Gläubigen mit ihrem Glauben aber häufig allein. Es zählt vor allem das individuelle und möglichst schwärmerische Bekenntnis.

Wer Gottes Gegenwart inmitten einer lobpreisenden Menge dann doch nicht spürt, habe vielleicht zu wenig geglaubt. Solche Gedanken können bei Gläubigen zu Schuldgefühlen führen oder gar ihre Gottesbeziehung belasten. Eine Gemeinschaft, die die Einzelnen ohne Angst verschieden sein lässt und ihre Zweifel ernst nimmt, entsteht auf diese Weise nicht.

Folgerichtig spielen die Gefahren des Glaubens in charismatischen Bewegungen meistens nur eine untergeordnete Rolle. Das reflektierte Sprechen über fragwürdige Gottesbilder oder sexualisierte Gewalt stört das Bekenntnis.

Begeisterung ist fehl am Platz

Der Autor
Louis Berger ist Volontär an der Katholischen Journalistenschule ifp und der Stabsstelle Kommunikation und Medien der Erzdiözese Freiburg. Zudem schreibt er für verschiedene Medien über philosophisch-theologische Grenzfragen.

Und da ist schließlich noch ein größeres Problem, auf das schon der Soziologe Max Weber hinwies: Charismatische Herrschaft steht und fällt mit dem unbedingten Vertrauen in charismatische Führungsfiguren. Dies kann zur unkritischen Verklärung dieser Personen oder gar (wie zum Beispiel im Fall der evangelikalen „Hillsong Church“) zur Vertuschung verschiedener Formen des Missbrauchs beitragen.

Deshalb ist Begeisterung fehl am Platz: Die Spiritualität charismatischer Bewegungen sollte immer mit der notwendigen Distanz betrachtet werden. Als Vorbild für eine katholische Kirche der Zukunft, die sich der Gefahren des Glaubens bewusst ist, taugen sie nur bedingt. Sie muss sich andere Strategien suchen.

Niemand soll dich wegen deiner Jugend geringschätzen!”, ermutigt der 1. Timotheusbrief (4,12) seinen Empfänger Timotheus. Und in der 1.500 Jahre alten Benediktsregel rät der heilige Benedikt, bei wichtigen Dingen alle Brüder anzuhören, “weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist” (RB 3,3). Darum kommen in unserer Rubrik “Der junge Kommentar” ausdrücklich Autor:innen unter 30 Jahren mit ihrer persönlichen Meinung zu einem selbst gewählten Thema zu Wort. Sie sind ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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