Themenwoche Europawahl (3): Experte Erzbischof Stefan Heße

Menschen- und völkerrechtliche Standards drohen ausgehebelt zu werden

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Europa brauche in seiner gemeinsamen Asylpolitik mehr Fairness. Das beziehe sich auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber den Schutzsuchenden. Das schreibt Flüchtlingsbischof Stefan Heße in seinem Beitrag für Kirche+Leben.

„Ein gemeinsamer Raum des Schutzes und der Solidarität“ – dieses Ziel haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU vor knapp fünfzehn Jahren auf die Fahnen geschrieben. Das klang nach humanitärem Aufbruch, zumindest nach dem Willen, den Flüchtlingsschutz als gemeinsame Verantwortung ernst zu nehmen. „Irreguläre Migration eindämmen“, „Außengrenzen sichern“ – so lauten markante Stichworte im Kontext der aktuellen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Wo stehen wir in Europa heute, wenn es um die Verteidigung des Flüchtlingsschutzes geht?

Vergangenes Jahr habe ich das Lager Mavrovouni auf Lesbos besucht. Einer jungen afghanischen Mutter war die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Dort, wo die Familie herkommt, hat sie Gewalt und Verfolgung erfahren. Dort, wo sie ankam, will man ihr keinen Schutz gewähren. Die Folge ist ein monatelanges Ausharren im Lager – ohne Bildungsmöglichkeiten für die Kinder, ohne adäquate Gesundheitsversorgung, von der dringend notwendigen Traumatherapie ganz zu schweigen. Mehrere Geflüchtete berichteten mir zudem von Pushbacks im Grenzgebiet: Nachdem sie das vermeintlich sichere Ufer bereits erreicht hatten, wurden sie wieder in türkische Gewässer zurückgeschleppt.

Bischof Heße: So wie es ist, darf es nicht bleiben

Themenwoche zur Europawahl:
Zur Europawahl blickt Kirche+Leben auf fünf Kernfragen zur gesellschaftlichen Entwicklung in der Europäischen Union. Expertinnen und Experten erörtern, wie sich die Situation in verschiedenen Bereichen darstellt und welche Chancen und Risiken es gibt. In Folge eins: der Arbeitsmarkt.

Wenn man sich die derzeitigen Verhältnisse an den EU-Außengrenzen vor Augen führt, wird klar: So wie es ist, darf es nicht bleiben. Gleichzeitig gibt es erhebliche Zweifel, ob die Situation durch die beschlossene GEAS-Reform wirklich besser wird. Einige Punkte lassen sogar das Gegenteil befürchten. Dazu gehört etwa der Plan, auch Familien mit kleinen Kindern in geschlossenen Zentren festzusetzen, oder die Absenkung der Kriterien, die für eine Rückführung in Drittstaaten vorliegen müssen. Das grundsätzlich berechtigte Anliegen, Migration besser zu steuern, droht menschen- und völkerrechtliche Standards auszuhebeln.

Bischof Heße: Nicht Migration, sondern Ursachen erzwungener Migration bekämpfen

Was wäre also zu tun? Europa braucht in seiner gemeinsamen Asylpolitik mehr Fairness – zwischen den Mitgliedstaaten und gegenüber den Schutzsuchenden. Statt großen Lagern in den Erstaufnahmestaaten sind eine rasche Registrierung und Weiterverteilung notwendig. Besondere Aufmerksamkeit sollten dabei vulnerable Gruppen erfahren, wie Traumatisierte und Opfer von Menschenhandel. Die Kommunen müssen europaweit dazu befähigt werden, die mit der Aufnahme einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen, praktisch wie finanziell. Und: Die geplanten Migrationspartnerschaften sollten in erster Linie darauf abzielen, Ländern des globalen Südens nachhaltige Entwicklungsperspektiven zu eröffnen. Nicht Migration, sondern die Ursachen erzwungener Migration gilt es zu bekämpfen.

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