Schwester Judith Kohorst: Schläft Gott trotz Katastrophen?

Auslegung der Lesungen vom 12. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B

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Tausende sterben in der Ukraine, in Gaza und Israel oder auf der Flucht - sie ertrinken zum Beispiel im Mittelmeer. Und Gott? Scheint ungerührt - auch im Evangelium vom Sturm auf dem See. Schwester Judith Kohorst legt die Schrifttexte dieses Sonntags aus.

„United for Rescue“ ist ein gemeinnütziger Verein, in dem auch viele kirchliche Gemeinden Bündnispartner sind. Der Verein hat Rettungsschiffe im Mittelmehr zum Einsatz gebracht. Wer die Homepage des Vereins besucht, findet dort ein kleines Video: Mitschnitt von Wellen auf dem offenen Meer. Die Perspektive ist die von einem kleinen Boot aus.

Wohin man auch schaut, sind nur diese Wellen zu sehen: Erst mäßig hoch, dann immer höher rollen sie auf die Betrachtenden zu und scheinen über ihnen zusammen zu schlagen. Die Vorstellung ist beklemmend, irgendwo auf dem offenen Meer diesen Wellen hilflos ausgeliefert zu sein.

Die Wellen schlagen zusammen

Auch die Jüngerinnen und Jünger sind in einem kleinen Boot unterwegs auf dem See Genezareth (Mk 4,36). Sie werden mit einem heftigen Wirbelsturm konfrontiert. Die Wellen schlagen über dem Boot zusammen und es beginnt, sich mit Wasser zu füllen (Mk 4,37).

Man kann sich die Angst und Verzweiflung in diesem Tosen der Elemente vorstellen. Und dann kommt der krasse Kontrast: Jesus liegt hinten im Boot auf einem Kissen und schläft.

Gott erscheint ungerührt

Die Lesungen vom 12. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B zum Hören finden Sie hier.

Es bleibt irritierende Erfahrung, dass Gott so oft ungerührt erscheint im Sturm menschlicher Not. Warum greift er nicht ein in der Ukraine? Warum greift er nicht ein in Israel und Palästina? Warum greift er nicht ein, wenn tausende Flüchtlinge im Mittelmehr auf überfüllten Booten in Seenot geraten?

Die 19-jährige Doaa aus Syrien erlebt auf dem Mittelmeer zusammen mit ihrem Mann den Untergang ihres Bootes. Sie muss mit ansehen, wie Menschen rund um sie völlig erschöpft untergehen. Auch ihr Mann, der seine Rettungsweste einer Frau gibt, die nicht schwimmen kann, wird Opfer der Wellen. Schläft Gott?

Die von den Nazis ermordete 29-jährige jüdische Mystikerin Etty Hillesum schreibt im KZ: „Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen. Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“

Jesus kümmert sich um alle

Unmittelbar vor der Darstellung des Sturms, dem sich das Boot der Jünger ausgesetzt sieht, erwähnt der Text „andere Boote“, die auf demselben See unterwegs sind (Mk 4,36). Die Jünger kümmert das nicht sonderlich, sie sind ganz und gar mit sich beschäftigt: „Kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?“ (Mk 4,38).

Das lässt an den Beginn des Markus-Evangeliums denken: Am Morgen nach seinem erstmaligen Wirken in Kafarnaum wird Jesus von Jüngerinnen und Jüngern damit konfrontiert, dass „alle“ ihn suchen. Nicht sonderlich beeindruckt, antwortet Jesus: „Lasst uns in die anderen Dörfer gehen“ (Mk 1,38). Im Unterschied zu den Jüngern sind für Jesus „alle“ Einwohner eben noch längst nicht alle – und gerade die von den Jüngern ausgeblendeten „Anderen“ sind es, an denen er Interesse hat.

Blick auch auf die „Anderen“

Die Jünger und Jüngerinnen im Evangelium können uns Vorbild sein, nach Gott zu fragen, zu schreien und mit ihm zu ringen: Warum schläfst du! Hilf uns! Warum kümmert dich die Not der Menschen nicht?

Aus der letztgenannten Frage erwächst unser Auftrag, dass wir uns in den Fußspuren Jesu um die „Anderen“ kümmern: die Übersehenen, die Aus-dem-Blick-Geratenen. Die Gemeinschaft der Glaubenden und Suchenden kann sich ihr Einsatzgebiet weder selbst wählen noch von den Windverhältnissen in Kirche, Gesellschaft und Politik abhängig machen.

Niemanden dem Sturm überlassen

Trotz unvorstellbarer Trauer über den Tod ihres Mannes nimmt die Syrerin Doaa, schiffbrüchig in den hohen Wellen des Mittelmeeres, ein 18 Monate altes Mädchen in ihre Obhut. Die Mutter gibt ihr das Kind mit der Gewissheit, dass sie selbst nicht überleben werde. Doaa singt für das völlig erschöpfte Kind und erzählt ihm Geschichten. Erst am vierten Tag im Meer werden sie von einem Handelsschiff entdeckt und aufgenommen.

Das Evangelium will ermutigen, uns nicht damit abzufinden, dass Menschen dem Sturm überlassen werden. Jesus jedenfalls ist da mit im Boot.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 12. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B finden Sie hier.

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