Themenwoche: Wie klappt es mit der kirchlichen Flüchtlingsarbeit? (3)

Flüchtlingsarbeit in Recklinghausen: Ohne Ehrenamtliche nicht denkbar

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In Recklinghausen betreut der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) sechs der acht Flüchtlingsunterkünfte der Stadt. Was die freiwillig Engagierten leisten und welche Gefahren vom Rechtspopulismus ausgehen, erläutert der Koordinator der SkF-Flüchtlingshilfe, Lars Lichtenberg.

Herr Lichtenberg, wie stellt sich die Flüchtlingssituation in Recklinghausen dar?

In Recklinghausen wohnen in insgesamt acht Unterkünften für Geflüchtete aktuell 382 Menschen im Alter zwischen wenigen Wochen und 88 Jahren. Sechs der acht Unterkünfte, in denen etwa 300 Menschen leben, werden durch den Sozialdienst katholischer Frauen Recklinghausen betreut. Die Unterkünfte unterscheiden sich in ihrer Belegung und ihrer baulichen Gestaltung. Es gibt eine Unterkunft für alleinstehende Männer, Unterkünfte für Familien und alleinstehende Frauen sowie eine gemeinsame Unterbringung von Alleinstehenden und Familien.

Welche Hilfen bietet der SkF an?

In den sechs von uns betreuten Unterkünften sind wir mit fünf Mitarbeitenden für die Sozialberatung zuständig. Wir bieten Sprechstunden an, die von den Bewohnerinnen und Bewohnern für alle Fragen der Bürokratie, der Integration, des Spracherwerbs, der Familiensituation und des Zusammenlebens in der Unterkunft genutzt werden können. In den vier Familienunterkünften bieten wir aktuell noch an allen Wochentagen eine Spielgruppe für Kinder an, die keinen Regelkindergartenplatz haben. Dort werden neben ersten Sprachkenntnissen für die Kinder auch Unterstützungen in Erziehungsfragen geboten. Die Gruppen werden von je zwei Tagesmüttern betreut. Darüber hinaus betreiben wir die Nähstube, die Frauen mit unterschiedlicher Herkunft ein Zusammenkommen beim gemeinsamen Handarbeiten ermöglicht.

Was leisten freiwillig Engagierte?

Themenwoche: Wie klappt es mit der kirchlichen Flüchtlingsarbeit?
„Wir schaffen das!“ Dieser Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts vieler Geflüchteter sorgte vor neun Jahren für Aufsehen. Die Herausforderungen waren enorm, inzwischen haben sich jedoch viele Prozesse eingespielt. Das freiwillige Engagement ist an vielen Orten weiterhin hoch. Dennoch wird im Moment eine hitzige, in großen Teilen unsachliche politische Debatte geführt. Kirche+Leben hat in Pfarreien gefragt, wie es mit der Flüchtlingsarbeit klappt. Außerdem kommt der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz zu Wort, der die politische Debatte und die Rolle der Kirchen einordnet.

Die Ehrenamtlichen leisten einen elementaren Beitrag in der Integration der Geflüchteten. Sie engagieren sich zum Beispiel in der Fahrradwerkstatt, wo mit Geflüchteten gemeinsam Fahrräder repariert werden, die dann kostenfrei an Geflüchtete weitergegeben werden. In der Kleiderkammer „Flucht*Punkt“ führen Ehrenamtliche in Eigenregie ein kleines Ladenlokal mit Boutique-Charakter, in der gespendete und gut erhaltene Kleidung kostenfrei für Geflüchtete angeboten wird. Zwei ehrenamtliche Allgemeinmediziner führen zwei Mal pro Woche eine medizinische Sprechstunde durch, in der selbst Menschen ohne Krankenversicherung und auf Wunsch anonym behandelt werden. Ein weiteres Team von sechs Engagierten hilft bei der Wohnungssuche, beim Erstbezug inklusive Renovierung und bei der Antragsstellung für eventuelle Sozialleistungen. An einer Unterkunft führen zwei Ehrenamtliche einen Sprachkurs für Frauen durch. Eine große Anzahl an Ehrenamtlichen – darunter auch viele ehemalige Klientinnen und Klienten – steht uns auf Abruf zur Verfügung, wenn wir Sprachvermittlungen und Übersetzungen benötigen. Andere Ehrenamtliche verwalten Schulmaterial und geben Nachhilfeunterricht. Alle schulpflichtigen Kinder erhalten von uns einen neu beschafften Tornister mit entsprechendem Schulmaterial.

Welchen Stellenwert hat dieses ehrenamtliche Engagement?

Ohne die Ehrenamtlichen geht es nicht bei unseren Aufgaben. Sie schlagen eine Brücke zwischen Geflüchteten und der Gesellschaft. Die Ehrenamtlichen leisten wertvolle Hilfen und fördern soziale Kontakte. Sie füllen oft Lücken, die staatliche Institutionen und auch wir als Sozialarbeiter nicht vollständig abdecken können, und bieten persönliche, direkte Unterstützung, die den Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelt.

Wie werden die Ehrenamtlichen vom SkF begleitet?

Die Begleitung der Ehrenamtlichen konnten wir bis Ende 2022 durch eine mit Fördermitteln finanzierte Ehrenamtskoordinatorin sichern. Mit zehn Stunden pro Woche hat sich die Kollegin um eine engmaschige Betreuung der Ehrenamtlichen und eine passgenaue Vermittlung in die verschiedenen Betätigungsfelder gekümmert. Darüber hinaus fanden mehrfach pro Jahr durch die Ehrenamtskoordinatorin organisierte Fortbildungen für die Ehrenamtlichen statt. Seit Anfang 2023 und mit Wegfall der Stelle der Ehrenamtskoordination haben wir diese Aufgaben auf die in unserem Fachbereich verbleibenden Mitarbeitenden aufgeteilt.

Was hat sich verändert zur Zeit der „Willkommenskultur“ vor knapp zehn Jahren?

2015 erlebten wir eine große Hilfsbereitschaft durch Ehrenamtliche, die ihresgleichen suchte. Das war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass das Thema Flucht auch medial allgegenwärtig war, was in den Jahren nach 2015 sukzessive abnahm. Gleichzeitig konnten wir jedoch zusammen mit den Ehrenamtlichen feste Strukturen aufbauen, die bis heute existieren. Die ehrenamtliche Unterstützung durch ehemalige Klientinnen und Klienten konnte erst mit der Zeit wachsen, sodass wir in diesem Bereich sogar von einem Anstieg des Engagements sprechen können. Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine 2022 flammte die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren und auch Sach- sowie Geldspenden zu leisten, erneut auf. Auch wenn die Anfragen seit Sommer 2022 wieder stagnieren: Aktuell melden sich weiterhin in regelmäßigen Abständen potenzielle Ehrenamtliche bei uns, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren wollen. In Recklinghausen pflegen wir eine Kooperation mit dem „Netzwerk Bürgerengagement“, das Interessierte an uns weitervermittelt.

Das Thema Migration beherrscht politische Debatten. Was kann für eine bessere Akzeptanz geflüchteter Menschen getan werden?

Aus meiner Sicht ist die gesamtgesellschaftliche Ansicht über „die Flüchtlinge“ und grundsätzlich die Offenheit gegenüber nicht-deutsch-gelesenen Personen abhängig vom gemeinsamen Austausch und der Aufklärung über die Hintergründe von Kultur, Flucht und Migration. Gerade in Zeiten des steigenden Populismus, der öffentlichen Reproduktion von Vorurteilen und der Verbreitung von Falschinformationen auch durch Politiker nicht-rechtsextremer Parteien ist es umso wichtiger, auch die Ehrenamtlichen für Interkulturalität zu sensibilisieren und zum Widerspruch gegen Rassismus zu ermutigen. Ein leider nicht mehr ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung assoziiert mit Menschen mit Migrationshintergrund direkt Flüchtlingsstatus, Sozialleistungsbezug und Kriminalität, ohne die Menschen und ihre Situation zu kennen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass entgegen öffentlicher Darstellung Geflüchtete, sofern sie die Erlaubnis dazu haben, größtenteils an Sprachkursen teilnehmen und eben doch arbeiten gehen. Auch ist es teilweise wieder salonfähig geworden, tatsächliche Kriminalität mit Herkunft, Religion oder Hautfarbe zu begründen, ohne Aspekte sozialer Ungleichheit, Armut und Marginalisierung zu berücksichtigen.

Das Ruhrgebiet hat einen hohen Migrationsanteil. Wo sehen Sie Grenzen der Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit?

Das Ruhrgebiet hat eine lange Geschichte der Migration und Integration. Auf der einen Seite bietet das Ruhrgebiet durch seine kulturelle Vielfalt, die Tradition der Zuwanderung und den Arbeitsmarkt eine gute Grundlage für Integration. Auf der anderen Seite stoßen sowohl Migrantinnen und Migranten als auch die aufnehmende Gesellschaft auf Herausforderungen. Grenzen der Integrationsbereitschaft können entstehen, wenn Vorurteile, Diskriminierung oder soziale Abgrenzung Migrantinnen und Migranten den Zugang zu Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe erschweren. Besonders dann, wenn das Angebot von Integrationsmöglichkeiten und ein offenes Entgegentreten gegenüber Fremden die Grundlage für tatsächliche Integrationsbemühungen durch Zugewanderte darstellt. Wenn darüber hinaus Teile der Gesellschaft kulturelle Differenzen sogar als Bedrohung wahrnehmen, kann das zu gegenseitiger Ablehnung oder sozialen Spannungen führen, die die Integration weiter behindern. Die Integrationsfähigkeit ist oft von strukturellen Bedingungen wie Bildungs- und Arbeitsmarktzugang, Wohnraum und sozialer Infrastruktur abhängig. Wenn Ressourcen und politische Unterstützung zurückgefahren werden, sehe ich eine hohe Gefahr der Stagnation oder sogar ein Scheitern von Integrationsprozessen.

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