Themenwoche: Wie klappt es mit der kirchlichen Flüchtlingsarbeit? (1)

Wie naiv ist die Kirche in der Migrations-Debatte, Herr Polenz?

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In der Migrationsdebatte pocht die Kirche auf die Würde der Menschen, die nach Deutschland kommen. Wird sie damit in der Politik überhaupt wahrgenommen? Kirche+Leben fragt Ruprecht Polenz, den früheren CDU-Generalsekretär.

Herr Polenz, über Flucht, Asyl und Migration wird aktuell schrill und undifferenziert diskutiert. Wo sehen Sie den Platz der katholischen Kirche in der Debatte?

Die Kirche verfügt über Orientierungsmaßstäbe aus dem christlichen Glauben. Je glaubwürdiger sie die vertritt, desto hilfreicher wäre es. Dabei sollte sie auch darauf hinweisen, dass niemand mehr tun muss als sie oder er kann. Aber die Kirche sollte weiter daran erinnern, was politisch aus dem Gebot der Nächstenliebe folgt.

Sie sagen, dafür brauche es Glaubwürdigkeit. Damit sieht es nicht erst seit dem Bekanntwerden sexualisierter Gewalt in der Kirche schlecht aus.

Die Kirche kann aber – mit Verweis auf das Engagement für Geflüchtete und Migranten in ihren Gemeinden und Institutionen – ein Beispiel dafür geben, was Nächstenliebe bedeutet. Da kann sich jede Kirchengemeinde fragen, ob es in der eigenen Praxis noch Luft nach oben gibt.

Abgewogene Stellungnahmen haben es derzeit schwer, durchzudringen. Wie kann das dennoch gelingen?

Die Probleme im Themenfeld Migration sind vielschichtig, darauf muss man sich einlassen. Doch gerade im Internet werden die Grautöne und die positiven Farben des Themas Migration ausgeblendet. Die AfD und unterstützende alternative Medien bestimmen mit ihrem Schwarz-Weiß-Denken stark die Debatte im Netz; es ist ein Durchlauferhitzer geworden: So wie im Internet wird früher oder später auch öffentlich diskutiert. Nehmen Sie das Messerattentat von Solingen. Da war es nur ein kleiner Schritt von Terrorismus und Islamismus zu einer generellen Anti-Islam-Debatte. Sie hat fatale Folgen für die vier Millionen Muslime hier im Land, die zu einem großen Teil deutsche Staatsbürger sind und ohne deren Beitrag die Gesellschaft zusammenbrechen würde.

Sie beschreiben, wie die Debatte falsch läuft. Nochmals: Wie kommen jene Menschen durch, die die Lage differenziert betrachten?

Mit Ausdauer und Manpower. Es müssen viele Menschen immer wieder erklären, dass die Situation differenziert ist und die Lösungen nicht einfach. Demokratie ist kein Zuschauersport. Ich wünsche mir, dass auch die Kirchen immer wieder zu Engagement aufrufen. Schließlich ist es auch ein christlicher Auftrag, sich um die Angelegenheiten einer Gesellschaft zu kümmern.

Die Kirche pocht auf den Wert der Menschenwürde. Ist das inzwischen ein Totschlagargument? Oder naiv?

Ruprecht Polenz (78) war im Jahr 2000 sieben Monate lang CDU-Generalsekretär. Von 1994 bis 2013 gehörte der Katholik aus Münster dem Bundestag an. In den vergangenen Jahren machte er sich als Stimme in politischen Debatten im Internet und in den sozialen Medien einen Namen. | jjo.

Die Kirche muss immer wieder ausbuchstabieren, was das heißt – und zwar an der konkreten Debatte. Zum Beispiel bei der Frage, ob Deutschland Straftäter nach Afghanistan abschieben soll. Auch Kriminelle haben Menschenwürde. Wenn wir nicht ausschließen können, dass Straftäter in Afghanistan gefoltert werden, dürfen wir dorthin nicht abschieben. Das heißt ja nicht, dass die Straftäter dann auf freien Fuß kommen. Sondern, dass sie ihre Strafe in Deutschland verbüßen. Menschenwürde darf uns nicht egal sein, sobald sie uns etwas kostet – wie in diesem Fall im Strafvollzug.

Kirche kann ja durchaus auch klare Kante: Flüchtlingsbischof Stefan Heße kritisierte, das neue CDU-Grundsatzprogramm breche in der Migrationspolitik mit dem christlichen Menschenbild. Derzeit warnen kirchliche Fachleute, Zurückweisungen an den deutschen Grenzen seien rechtlich unmöglich. Welche Resonanz finden solche Aussagen?

Das hat schon ein paar Reaktionen ausgelöst. Mit Vorwürfen zu ihrem Menschenbild sollte die CDU sich auseinandersetzen und sie in der politischen Umsetzung des Programms möglichst widerlegen. Aber Kritik wird umso mehr betrachtet, wenn sie konkrete Vorschläge enthält – zum Beispiel, wie eine Kontrolle der Migration möglich wäre, die humanitären Standards entspricht. Da drückt sich die Kirche. Kann sein, dass es solche Vorschläge gibt. Aber sie sind in der Debatte nach meinem Eindruck noch nicht durchgedrungen.

Zum Themenfeld Migration gehört das Kirchenasyl. Wie bewerten Sie es als Politiker? 

Das Kirchenasyl ist kein Lösungsansatz, sondern ein Notbehelf für wenige Menschen. Es ist auch ein Protest gegen staatliche und juristische Maßnahmen, ein Impuls, mit dem die Kirchen deutlich machen, dass es aus ihrer Sicht nicht für alle Fälle vernünftige Regelungen gibt. Das Kirchenasyl ist also Teil der allgemeinen Diskussion, ich sehe es aber nicht gefährdet.

Die Kirchen verlieren weiter an gesellschaftlicher Relevanz. Was denken Sie darüber?

Auf die Menschen stürzen so viele Dinge und Informationen ein wie selten zuvor, die Veränderungsgeschwindigkeit in der Gesellschaft ist hoch. Da sehe ich einen Grundbedarf an Einordnung. Der Kirche als sinnstiftender Organisation könnte es gelingen, hier Resonanz zu gewinnen – unter zwei Voraussetzungen: Sie muss Fragen beantworten, die die Menschen tatsächlich stellen. Und sie muss das in verständlicher Weise tun. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Menschen froh wären, eine solche Orientierungshilfe zu bekommen.

Sicher? Einige Menschen fühlen sich schon bevormundet, wenn Politikerinnen und Politiker, Expertinnen und Experten Erläuterungen und Empfehlungen geben.

Es gibt einen Unterschied zwischen solchen Hilfsangeboten und Bevormundung. Letzteres ist ein Ausnutzen von Macht. Angebote zur Orientierung sind immer frei und leben von ihrer Attraktivität. Auch die Kirchen werben mit ihren Aussagen um die freie Entscheidung der Menschen. Wer solche Angebote für Bevormundung hält, will sich gegen Kritik an der eigenen Sichtweise immunisieren – und will in Wahrheit nicht diskutieren.

Themenwoche: Wie klappt es mit der kirchlichen Flüchtlingsarbeit?
„Wir schaffen das!“ Dieser Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts vieler Geflüchteter sorgte vor neun Jahren für Aufsehen. Die Herausforderungen waren enorm, inzwischen haben sich jedoch viele Prozesse eingespielt. Das freiwillige Engagement ist an vielen Orten weiterhin hoch. Dennoch wird im Moment eine hitzige, in großen Teilen unsachliche politische Debatte geführt. Kirche+Leben hat in Pfarreien gefragt, wie es mit der Flüchtlingsarbeit klappt. Außerdem kommt der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz zu Wort, der die politische Debatte und die Rolle der Kirchen einordnet.

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