Kirche+Leben-Interview mit dem Soziologen und Theologen Alexander Leistner

Rechtsruck bei der EU-Wahl: Was Kirchen und Christen jetzt tun können

Anzeige

Bei der Europawahl ist Europa nach rechts gerutscht. Was bedeutet das für kommende Wahlen? Was können die Kirchen zur Stärkung der Demokratie tun? Kirche+Leben fragt den Soziologen und Theologen Alexander Leistner von der Uni Leipzig.

Herr Leistner, Rechtsruck, Erdbeben oder keine Überraschung – wie bewerten Sie die Europawahl?

Mit Blick auf alle EU-Staaten kommt das Ergebnis nicht komplett überraschend. Es hat die erwartete Verschiebung nach rechts gegeben, aber jetzt auch keinen Erdrutsch. In der Mitte hat sich die Europäische Volkspartei, zu der die Christdemokraten gehören, gehalten. In Deutschland ist die CDU stark geblieben als Partei des „alten“ Spektrums. Das ist durchaus ungewöhnlich, denn in anderen EU-Staaten sind Christdemokraten inzwischen zum Teil marginalisiert. Es zeigt sich, dass der Rechtsruck kein allein deutsches Phänomen ist. Spannend wird sein, ob sich eine Fraktion der extremen Rechten und Europa-Gegner bilden kann, womöglich auch wieder mit der AfD. Und, was das für die Arbeit im Parlament bedeutet.

Was fällt Ihnen beim deutschen Ergebnis auf?

Die Zuwächse bei der AfD sind deutlich, aber auch nicht überraschend. Im Vergleich zu früheren Umfrage-Höhenflügen hat sie sogar eher verloren. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ hat aus dem Stand ein ziemlich starkes Ergebnis geholt, finde ich, auch in Ostdeutschland. Dort muss man zur Kenntnis nehmen, dass die AfD stärkste politische Kraft ist.

In Thüringen, Sachsen und Brandenburg werden im September Landtage gewählt. Welche Schlüsse lassen sich dafür aus der Europawahl ziehen?

Die Europawahl und die parallelen Kommunalwahlen in den östlichen Ländern haben für schärfere Konturen gesorgt. Jetzt ist in Zahlen sichtbar, welche Mehrheiten möglich sind und wie weit die Resonanz einzelner Positionen reicht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es Landtage mit nur drei großen Fraktionen geben wird: CDU, BSW und AfD. Man sollte auch mit der Deutung „Protestwahl“ vorsichtig sein. Die AfD, das zeigt sich, hat eine sehr loyale Kernwählerschaft mit einer starken Bindung an ihre Themen und Aussagen.

Diese Wählerschaft bleibt ein Rätsel. Die AfD arbeitet mit einfachen Slogans für komplexe Probleme, bietet Lösungen allenfalls in holzschnittartigen Ansätzen. Dass ihr Spitzenpersonal Verbindungen zu Russland und China hat, schadet ihr kaum. Was treibt AfD-Wähler an?

Dort verfestigen sich autoritative Einstellungen, auch Ressentiments, etwa gegen Migranten, gegen die regierenden, als links empfundenen „Eliten“, oder anti-westlicher Art. Hinzu kommt, dass den Begleiterzählungen geglaubt wird, die die AfD verbreitet. Dass also Enthüllungen zur geplanten „Remigration“ von Migranten, zu Russland- und China-Kontakten und Geldzahlungen oder der Streit um die Beobachtung durch den Verfassungsschutz „Kampagnen“ seien gegen die selbsternannt „einzige Oppositionspartei“. Die am rechten Rand entstandene digitale Öffentlichkeit reproduziert diese Binnen-Weltsicht. Und neben der AfD gibt es viele, teils noch radikalere Player und Social-Media-Kanäle. Es gibt eine ganze Infrastruktur, die ein rechtes Weltbild transportiert.

Das hat bei der Europawahl auch bei jungen Wählerinnen und Wählern verfangen. Warum?

In den sozialen Netzwerken werden junge Menschen schnell mit Aussagen der AfD konfrontiert. Die sind oft einfach und kurz, manches bleibt hängen. Hinzu kommt, dass Parteien wie die Grünen Ablehnung von allen Seiten erfahren, auch aus der politischen Mitte. Schließlich haben wir es heute – nicht erst seit Corona, aber seither verstärkt – mit Desinformation zu tun. Viele Quellen, die sich serös geben, sind es nicht.

Dabei warnen etliche gesellschaftliche Kräfte vor der AfD: Wirtschaftsverbände halten die ökonomischen Ideen der Rechten für eine Katastrophe, Gewerkschaften und Kirchen warnen, die katholische Bischofskonferenz im Februar deutlich wie nie. Warum bewirkt das so wenig?

Ja, auch die Kirchen positionieren sich in erstaunlicher Klarheit. Man muss aber sehen, in welche Richtung solche Aussagen wirken. An der Kernwählerschaft der AfD kratzen sie vermutlich kaum. Sie dienen eher der Selbstvergewisserung der Mehrheitsgesellschaft und helfen den Gruppen, ihre Rolle in einer Zeit der Umbrüche zu finden.

Wo sehen Sie denn den Platz der Kirchen?

In einer Rolle, die sie – zum Beispiel zu DDR-Zeiten – schon einmal hatten: als geschützter Ort, als andere Form von Öffentlichkeit, als Raum der freien Rede. Die Kirchen können so auch demokratische Akteure unterstützen, die gegen eine rechte Meinungs-Hegemonie in einer Region angehen müssen. Kirchenvertreter und Gemeinden sollten auf jene zugehen, die sich für Demokratie einsetzen und fragen: Was braucht ihr in der politischen Auseinandersetzung? Wie können wir euch konkret unterstützen?

Die drei Parteien der Bundesregierung haben zusammen 31 Prozent erreicht, die Kanzlerpartei SPD gerade 14 Prozent. Reicht das zum Weitermachen? Der französische Präsident Emmanuel Macron ruft nach der Niederlage bei der EU-Wahl Neuwahlen zur Nationalversammlung aus.

Die Situation in Frankreich ist eine andere als in Deutschland. Außerdem wäre es für die Stabilität in der EU wohl nicht hilfreich, wenn zwei Staaten aus dem Kern der Union den riskanten Schritt zu Neuwahlen gehen. Und ganz so lang hin bis zur Bundestagswahl 2025 ist es ja nicht mehr. Die Unzufriedenheit mit der Ampel ist nicht neu. Die Bundesregierung hat mit vermeidbaren Problemen zu tun, was internen Streit, mangelnde Geschlossenheit und ihre Kommunikation nach außen angeht. Ich würde mir allerdings wünschen, dass mehr Wählerinnen und Wähler wahrnehmen, unter welch schwierigen Bedingungen und angesichts welcher Krisen die Ampel regieren muss.

Was kann jede und jeder Einzelne aus dem Europawahl-Ergebnis lernen?

Die Zahlen schärfen den Blick. Es ist sichtbar, welche Mehrheiten möglich sind. Vielleicht löst das bei der einen oder dem anderen den Impuls aus, selbst aktiv zu werden. Denn es ist deutlich geworden, was auf dem Spiel steht – und, dass es uns alle angeht.

Alexander Leistner hat Soziologie, Erziehungswissenschaft und Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dresden studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig, forscht unter anderem zur Soziologie sozialer Bewegungen, zu Rechtsextremismus und Protesten sowie zur Religionssoziologie.

Anzeige